Ein Fährmann

Pierre Rissient © RR

Die Unersetzbarkeit ist im Berufsleben eine tückische Kategorie, notorisch unzuverlässig und mit hohem Risiko auf Schwermut. Aber wer könnte Pierre Rissient ersetzen? Wer entdeckt nun, da er im Alter von 81 Jahren gestorben ist, neue Talente und setzt unbekannte Kinematographien auf die Weltkarte des Kinos?

Dabei war es schwer zu sagen, welchen Beruf er überhaupt ausübte. Es gab keinen Namen dafür. Obwohl er keineswegs unbescheiden war, zog er es vor, hinter den Kulissen zu wirken. Der Nachruf in "Variety" nennt ihn einen "Talent Scout for Cannes", was nur eine Facette unter unzähligen ist. Pierre war kein Filmkritiker (sein Buch über Joseph Losey ist eher mittelprächtig), sondern brachte vielmehr andere zum Schreiben. Zeitweilig leitete er, ein Kino. Das "Mac Mahon" hatte zwar nur zweihundert Plätze, besaß aber weltweite Ausstrahlung. Er war Regieassistent bei Charbols »Schrei, wenn Du kannst« und dann bei »Außer Atem«. In den 1960ern wurde er zusammen mit seinem Freund Bertrand Tavernier zu einem höchst engagierter Presseagenten, der zu wenig Gage verlangte (sein Partner hielt ihm überdies immer vor, dass er kein Geld fürs Alter zurücklegte), sondern zufrieden war, wenn er Regisseure wie Altman, Fuller, Lang, Jerry Schatzberg und nicht zuletzt Clint Eastwood verteidigen, rehabilitieren oder durchsetzen konnte. Er hat auch sporadisch Regie geführt, wollte seine Filme später aber nie mehr zeigen (obwohl zumindest einer in Cannes gelaufen war). Er war ein wichtiger Produzent, dessen Name aber nur im Vorspann von zwei Filmen auftaucht. Für mich war er zuvorderst ein Profi der Liebe zum Kino. Als ich vor ein paar Jahren eine Radiosendung über Pierre machte, schlug einer meiner Gesprächspartner, der Filmkritiker Dominique Rabourdin, folgende wunderbare Berufsbezeichnung vor: "C'est un passeur, un passeur des Films, er ist ein Fährmann, ein Fährmann für Filme."

Rissient entdeckte Filme nicht nur, er engagierte sich hartnäckig für sie. Er beherrschte alle Winkelzüge. Wie es dazu kam, dass die völlig gespaltene Jury 1979 die Goldene Palme ex-aecquo an »Apocalypse Now« und »Die Blechtrommel« vergab, gehört zu den bestgehüteten Geheimnissen der Festivalgeschichte. Für Insider steht außer Frage, dass dies eine Rissient-Operation war, der in Cannes Francis Ford Coppolas Film betreute – und später die Oscar-Kampagne für Volker Schlöndorffs Grass-Verfilmung organisierte. In den 1990er Jahren landete er seine erfolgreichsten Coups. Er arbeitete damals als Berater und Produzent für Ciby 2000, die an vier Gewinnern der Goldenen Palme beteiligt war: »Das Piano«, »Underground« von Emir Kusturica, »Lügen und Geheimnisse« von Mike Leigh und »Der Geschmack der Kirsche« von Kiarostami. Zwischendurch gewann »Pulp Fiction« den Preis. Es wird nicht geschadet haben, dass Pierres alter Freund Clint Eastwood Präsident der Jury war.

Derlei Freundschaften pflegt er keineswegs nur aus strategischen Gründen. Seine Bewunderung für Regisseure wie Fritz Lang und Howard Hawks war aufrichtig. Er gewann ihr Vertrauen und verdiente es sich. So baute er persönliche Beziehungen auf, die ihm einen privilegierten Einblick in ihre Filme gewährten. In unserer Sendung sagt er: "Lang ist ein gutes Beispiel. Ich denke, ich entdecke in seinen Filmen Dinge, die niemand anderes bemerkt. Für mich ist er in allen Filmen präsent: seine Art, zu sprechen, seine Nervosität, seine Emotionalität. Den meisten Leuten erscheinen seine Filme kalt, aber ich spüre sein fieberhaftes Temperament in jeder Szene, jeder Einstellung."

Ich machte mir schon lange Sorgen um seine Gesundheit. Das Gehen fiel ihm immer schwerer. Als wir während einer Pause unseres Radiointerviews ins Restaurant gingen, herrscht er mich an, als ich ihm meinen Arm als Stütze anbot. Einer wie er musste um jeden Preis autark bleiben, der Gedanke, auf andere angewiesen zu sein, war ihm verhasst. Allerdings hatte er gerade geheiratet, die reizende Yung Hee, die sich noch mehr hinter den Kulissen verbarg. Als wir vom Essen zurückkehrten, hatte sie, als unsichtbarer Geist, ein Tablett mit Tee bereitgestellt. Von seiner Heirat hatte er nur engen Freunden erzählt, zu denen ich nicht gehörte. Dabei glaube ich, er suchte weniger Freunde, sondern Verbündete, Gleichgesinnte.

Er konnte barsch und aufbrausend sein. Mehrfach erlebte ich mit, wie er Leute am Telefon gnadenlos abkanzelte. Zum ersten Mal in seinem kleinen Büro bei Pathé, wo er einen Produktionsassistenten anschnauzte, der ihm Muster in miserabler Qualität vom Dreh zu Jane Campions »In the Cut« geschickt hatte. Unser Interview mussten wir mehrmals unterbrechen, weil Air France die falschen Tickets für eine seiner vielen Reisen im Dienst des Kinos ausgestellt hatte. Ich war heilfroh, nicht am anderen Ende der Leitung zu sitzen. Und da es kurz vor Cannes war, musste er Hunderte von Anordnungen geben. Es mussten lauter Leute davon überzeugt werden, nicht in den neuen Abbas Kiarostami zu gehen, sondern die Master Class des über hundertjährigen Norman Lloyd zu besuchen, einer lebenden Legende, die mit Hitchcock und Welles gearbeitet hatte. Dabei war Kiarsostami eine seiner großen Entdeckungen, neben Campion, King Hu, Im Kwon-taek, Lino Brock, Quentin Tarantino und dem gerade verstorbenen Lester James Peries. Vermutlich wäre es Pierre sogar gelungen, den iranischen Regisseur zu überreden, die eigene Pressekonferenz wegen Lloyd zu schwänzen. Widerspruch ließ er nicht gelten.

Eine Freundin berichtete einmal, wie es ihm gelang, das Hotelmanagement zu überzeugen, die Küche zu wieder zu öffnen, als sie und andere Jurymitglieder von einem Ausflug zu nachtschlafener Zeit heimkehrten. Selbst an den gefürchteten Türstehern in Cannes, die niemanden hereinlassen, der keinen Abendanzug mit Fliege trägt, kam er im T-Shirt mühelos vorbei. Als er Campion und Estwood 1994 zur Oscar-Verleihung begleitete, trug er ein indonesisches Hemd, das er elegant genug fand. Dieses Wunder an Nonchalance hatte keine Zeit für Höflichkeiten und Umschweife. Er wählte immer den direkten Weg. Jemand, der so selbstbewusst auftrat, bekam überall Zutritt.

Dennoch ist er ein Phänomen, das nur Eingeweihten bekannt ist. Erst seit 2015 gibt es einen knappen Wikipedia-Eintrag über ihn, dafür aber gleich zwei Dokumentarfilme über ihn, von Todd McCarthy und Benoit Jacquot. Im Abspann etlicher Filme findet man Danksagungen an ihn. Im Jahre 2002 verlieh ihm die UNESCO einen Preis für seine Verdienste um das Filmerbe. Man sah ihn auf allen Festivals der Welt und im Bonusmaterial unzähliger DVDs. In Telluride wurde ein Kino nach ihm benannt und das Festival ließ T-Shirts drucken, auf denen ein berühmtes Motto von ihm steht: "Es genügt nicht, einen Film zu mögen. Man muss ihn aus den richtigen Gründen mögen." Sein Urteil war rigide, auch gefürchtet.Seinen Geschmack bildete er nach dem Weltkrieg aus, in der Geburtsstunde der französischen Cinéphilie. Ein Schlüsselerlebnis war für ihn die Entdeckung von Jules Dassins Film noir »Die Ratte von Soho«: Wie konnte es sein, dass er diesen Film großartig fand, der ansonsten bei Kritik und Publikum durchgefallen war? Das war der Beginn einer streitbaren Filmbegeisterung, die stets nur dem eigenen Geschmack vertraute und die Wahrnehmung des Kinos verändern wollte.

Dassins Filme erwähne ich nicht von ungefähr, denn eine seiner Missionen war die Rehabilitierung von Opfern der McCarthy-Ära. So lernten wir uns auch kennen, bei einer Retrospektive über die Black List, die in Wien lief. Er hielt Ausschau nach jungen Cinéphilen. Es schmeichelte mir, dass er mich ins Vertrauen zog. Seit Jahrzehnten verstand er es, Kritiker zu entwaffnen. In meinem Festivalbericht erwähnte ich lobend „Boesman and Lena“ von John Berry, den er mitproduziert hatte. Noch so eine gelungene Rissient-Operation.

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