Ein Ehrenplatz

Berlinale-Palast

Zunächst war ich gar nicht glücklich darüber, in welche Zone des Berlinale-Palasts mich das Kartenbüro diesmal schickte. Rechts unten im Parkett, in den ersten Reihen, wo man nur einen schrägen Blick auf die Leinwand erhaschen kann. Aber dann stellte sich heraus, dass ich den besten Platz im Saal hatte. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendjemand in dieser Vorstellung eine interessantere Sitznachbarin hatte als ich.

Die meisten Wettbewerbsfilme sehe ich natürlich in den Pressevorführungen. Aber wenn es sich eben einrichten lässt, ziehe ich die Vorführungen mit regulärem Publikum vor. Die Filme wirken anders, wenn man sie unter lauter Zivilisten sieht. Man spürt schneller, wie sie mit dem Publikum kommunizieren, welchen Rückhalt sie bei ihm finden können. Bisweilen habe ich bei dieser Gelegenheit schon Gewinner des Goldenen Bären gesehen, beispielsweise »Grabavica – Esmes Geheimnis« oder »Cäsar muss sterben«, deren Preisregen meine Kollegen kalt erwischte. Ich glaube nicht, dass dies auch für die gestrige Vorführung von »Colo«, dem portugiesischen Beitrag, gilt. Aber dennoch war es ein einzigartiges Erlebnis, ihn nicht zusammen mit lauter anderen Kritikern zu sehen.

Ich befand mich in einer Zone der Aufgeschlossenheit. Zu meiner Rechten saß ein älteres Ehepaar, das seine Karten sichtlich ohne Voreingenommenheiten gekauft hatte. Die Herrschaften waren einfach nur gespannt, was der Wettbewerb für sie bereithielt. Das ist eine Spielart der Neugierde, die bei Pressevorführungen eher selten auf den Plan tritt. Die Frau las ihrem Gatten die Inhaltsangabe aus dem Programmheft vor und stimmte ihn sodann auf die folgenden Filme ein. Diese Demut und Hingabe berührte mich sehr. In den Pressevorführungen sitze ich meist zwischen Leuten, die irgendeinen Grund zur Klage haben.

Die Nachbarin zu meiner Rechten suchte anfangs in ihrer Tasche nach den Karten für die nächsten Vorstellungen. Aber der Platz neben ihr sei frei, versicherte sie mir mit Berlinerischer Umstandslosigkeit. Wir kamen rasch ins Gespräch. Offenkundig war sie eine Berlinale-Veteranin. Das gesamte Wettbewerbsprogramm wollte sie an diesem Abend sehen, obwohl dies bedeutete, dass sie dank verdrießlicher Bauarbeiten an der S-Bahn erst nachts um halb zwei daheim in Köpenick ankommen würde. Solche Strapazen nimmt kein Kritiker, den ich kenne, auf sich.

Wir debattierten über die Vorzüge und Nachteile der diversen Berlinale-Kinos. Im Friedrichstadtpalast, der für meine Sitznachbarin gewiss leichter zu erreichen wäre, störten sie die Sitze. Nur einmal sei sie dort gewesen, weil sie Harry Belafonte auf der Bühne erleben wollte. Für ihn hatte sie ein Faible, seit sie ihn und Dorothy Dandridge vor Jahrzehnten im Zoopalast in »Carmen Jones« gesehen hatte. Damals, in den Fünfzigern konnten die Bewohner des Ostteils der Stadt noch in den Westen reisen. Und die Eintrittspreise waren für sie niedriger, 25 Pfennig betrugen sie nur. Dieser Aspekt berlinerischen Zusammenrückens während des Kalten Krieges war mir neu. Dann müsse sie der Mauerbau ja doppelt getroffen haben, bemerkte ich mit beschämender Arglosigkeit. Ja, erzählte sie, aber zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihr Filmstudium schon abgeschlossen. Nun horchte ich erst recht auf.

Meine Sitznachbarin hatte als Cutterin bei der DEFA gearbeitet, und auch nach dem Mauerfall ist sie gut im Geschäft. Sie wollte kein großes Gewese darum machen und rechnete wohl nicht damit, dass ich einen der Filme kannte, an denen sie mitgewirkt hatte. Für Andreas Dresen hatte sie »Die Polizistin« und »Nachgestalten« geschnitten. Aus dem stammt einer meiner Lieblingssätze im deutschen Kino. Michael Gwisdek spielt einen verschubsten Angestellten, der sich redlich Mühe gibt, sich nach der Zeitenwende zurechtzufinden. Auf Geheiß seines Chefs muss er sich um einen Flüchtlingsjungen kümmern, den er schließlich bei sich übernachten lässt. Naja, entschuldigt er den Anblick seiner Wohnung, in Afrika ist es ja auch nicht immer aufgeräumt.

Vor dem Mauerfall waren etliche der Filme, die meine Sitznachbarin geschnitten hatte, auf der Berlinale gelaufen: »Bürgschaft für ein Jahr«, »Fallada – Das letzte Kapitel«. Momentan lese sie gerade ein Drehbuch, aus dem vielleicht etwas werden könne. Sie wies in ihre Tasche, holte das Manuskript aber nicht hervor. Ich beherrschte mich, wenngleich meine Neugier groß war. Noch brennender jedoch interessierte mich, wie die Zusammenarbeit mit jungen Regisseuren ist. Ich könnte mir vorstellen, dass viele eingeschüchtert werden von so viel professioneller Erfahrung. Das hatte sie selten erlebt und wenn, dann nur mit Angebern.

Ich gab mich nicht als Filmjournalist zu erkennen. Manchmal darf man auch in diesem Beruf schüchtern sein. Für den Verlauf diese Gesprächs war das vielleicht sogar von Vorteil. Auf jeden Fall versicherte ich meiner Nachbarin, dass es mir eine Ehre sei, neben ihr zu sitzen. Sie winkte ab. Diese Art von Bescheidenheit kenne ich von vielen Cutterinnen, die man heute ja schicklicherweise Editoren nennen sollte. Es ist keine falsche. Das habe ich in Gesprächen mit Anne Coates gelernt, die u.a. »Lawrence von Arabien« geschnitten hat, oder mit Susan Morse, die lange für Woody Allen arbeitete. Es gebricht ihnen nicht an Stolz. Aber sie fühlen sich womöglich wohler, wenn sie abseits des Rampenlichts wirken. Unbesungene Heldinnen.

Es ärgerte mich ein wenig, als der Film begann und unserem Gespräch brüsk ein Ende setzte. Wir hatten uns einander nicht vorgestellt, und nach Ende des Vorstellung musste ich stracks davon eilen. Daheim belehrte mich später eine kurze Internetrecherche, dass ich Sitznachbar eines bewundernswerten Lebenswerks gewesen war. Ich hatte neben Monika Schindler gesessen, die seit den frühen Sechzigern an fast 100 Kino- und Fernsehfilmen mitgewirkt hat. Ihre Filmographie umfasst berühmte Titel. Jeder von Ihnen wird mindestens ein Halbdutzend davon gesehen haben. Frau Schindler hat zahlreiche Preise erhalten, bestimmt nicht genug, aber vielleicht werden es noch mehr. Wer weiß, was in dem Drehbuch steckt, dessen Titel und Autor ich nicht auszuspionieren wagte? Heute Nachmittag war ich wieder in einer regulären Vorstellung im Berlinale-Palast. Ich hatte eine bessere Sicht auf die Leinwand, aber nicht den richtigen Platz. Ich hielt Ausschau nach meiner famosen Nachbarin; leider ohne Erfolg. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, der Wettbewerb dauert ja noch einen Tag.

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