Schlesisches Himmelreich

Vor ein paar Tagen erzählte mir eine geschätzte Kollegin von ihren Erlebnissen in Venedig. Ich wusste, dass sie wie viele Journalisten bereits ein paar Tage vor Festivalbeginn anreist, weil es da bereits Pressevorführungen gibt. Neu war aber für mich die Erkenntnis, dass es am Vortag der offiziellen Eröffnung auch eine inoffizielle gibt.

In der Regel bildet ein Film aus der Klassiker-Reihe den Auftakt. Diesmal lief u.a. ein Programm mit restaurierten Filmen der Brüder Lumière und in das Thierry Frémaux, der neben Cannes auch das famose Institut Lumière in Lyon leitet, einführte. Es bestand aus ganz frühen Arbeiten der Filmpioniere, die ihre Kameraleute nach dem Durchbruch ihrer Erfindung flugs in alle Welt schickten. Das Publikum hungerte nach Bildern aus benachbarten und fernen Ländern. Natürlich machten die Operateure auch in Venedig Halt. Frémaux hob hervor, dass sie dort etwas erbeuteten, das einzigartig ist: Ansichten einer Stadt, die sich in den 120 Jahren, die seither vergangen sind, praktisch überhaupt nicht verändert hat.

Solche Orte sind von ungeheurem Wert für zwei Branchen, die übrigens selten in einen Interessenkonflikt kommen: Tourismus und Kino. Auch Deutschland kann mit einer solchen Schatzkammer der Zeitlosigkeit aufwarten. Sie wurde während des Weltkriegs kaum zerstört und kann sich rühmen, rund 4000 Architekturdenkmäler, vom Mittelalter bis zum Jugendstil, ihr Eigen zu nennen. Was sonst verschwand, blieb hier bewahrt. Es gibt kaum moderne Bausünden, die die Anmutung gut abgelagerter Historie schmälern würden. Es nimmt also nicht Wunder, dass Görlitz zu einem beliebten Drehort avanciert ist.

Auf die Landkarte des internationalen Kinos kam die sächsische Stadt, als hier 2004 etliche Szenen für »In 80 Tagen um die Welt« mit Jackie Chan und Steve Coogan gedreht wurde. Tatsächlich war sie schon vor dem Mauerfall ein Drehort für rund drei Dutzend DEFA-Produktionen und Fernsehfilme. Zwischen 1992 und 2004 entstand hier im Schnitt ein Film pro Jahr; darunter der erstaunliche »Wege in die Nacht« von Andreas Kleinert, den ich auch aus diesem Grund gern wiedersehen würde. Damals ahnte noch niemand, was da einmal auf die Stadt zukommen würde. Mit den »80 Tagen« öffneten sich die Schleusen unwiderruflich. Seither haben Wes Anderson, Detlev Buck, Francois Ozon und Quentin Tarantino hier gedreht, George Clooney schaute auch einmal für einen Außendreh vorbei. Einige der hier gedrehten Filme haben Oscars gewonnen, andere sich immerhin mächtig dafür angestrengt. Nun hat sich die Stadt den Kosenamen »Görliwood« gegeben, was zwar ein wenig albern klingt, aber von berechtigtem Lokalstolz kündet.

Ich hatte schon lange vor, Görlitz zu besuchen. Freunde hatten mir von einem wahren Kleinod berichtet. Bisher zögerte ich aus Furcht, es könne sich als brutalsaniertes Postkartenidyll entpuppen. Das glorreiche Septemberwetter zerstreute nun meine Zweifel. Unsere Entscheidung, dort ein Wochenende zu verbringen, wurde zunächst in aller Unschuld getroffen: Ursprünglich hatte ich gar nicht im Sinn, die Stadt im Hinblick auf Drehorte zu erkunden. Aber dann stellte sich heraus, dass an diesem Samstag die allmonatliche »Film ab!«-Führung stattfand und es überdies ein großzügiger Zufall wollte, dass am Sonntag der »Tag des offenen Denkmal« begangen wurde. Würde sich mein Wunsch erfüllen, das famose Kaufhaus zu besichtigen, in dem die Hotellobby für »The Grand Budapest Hotel« aufgebaut worden war?

Schon auf dem Hinweg wurden wir des lokalen Geschichtsbewusstseins inne: Ein Schild wies auf »Strittmatters Laden« hin. Da wir aber weder den Roman gelesen noch die Fernsehverfilmung gesehen hatten, ließen wir uns nicht vom Weg abbringen. Der Herr vom Tourismusbüro (einem von mindestens dreien, wie ich vor Ort entdeckte) sowie die Fremdenführerin waren am Telefon sehr entgegenkommend gewesen, da gebot es die Höflichkeit, pünktlich zu sein. Die Stadt wirbt gastfreundlich um Dreharbeiten; im Rathaus (das selbst zuweilen als Drehort dient) sitzt eine offenbar engagierte Filmbeauftragte. Für die Mitteldeutschen Medienförderung muss Görlitz ein Segen sein. Auch auf Filmtourismus ist man gut vorbereitet. Es gibt spezielle Reiseangebote, auf den Spuren von Stars wie Daniel Brühl, Ralph Fiennes und Kate Winslet zu wandeln. Das Büchlein »Drehort Görlitz« blickt auf die bewegte Filmgeschichte der Stadt seit 1954 zurück. Mithilfe eines Flyers, auf dem bemerkenswerte Drehorte verzeichnet sind, lässt sich die Altstadt auf eigene Faust erkunden. Dennoch ist der Rundgang, den Karina Thiemann und Uwe Stark durchführen, sehr beliebt. An diesem Samstag scharten sie zwischen 30 und 40 Schaulustige um sich.

Die Zwei besitzen jene Mischung aus Bodenständigkeit und umstandsloser Weltläufigkeit, die für ihren Beruf unverzichtbar ist. Ihre Tour ist kein ausgreifender Parcours möglichst vieler Schauplätze – lange Strecken muss man in den gut zwei Stunden nicht zurücklegen -, sondern entwirft das Psychogramm einer Kleinstadt, die noch immer erstaunt ist, dass sie sich regelmäßig in einen filmischen Brennpunkt verwandelt. Vermutlich kann jeder Görlitzer von der trauten Begegnung mit einer Berühmtheit erzählen. Auch die lokalen Zeitungen werden nicht müde, ausführlich über die Invasion neuer Filmteams zu berichten. Diese populäre Anteilnahme spiegelt sich im Stil der Führung wider. Sie ist ein Strauß der Anekdoten. Der Komparsen-Aufruf für den TV-Zweiteiler »Der Turm« war ein besonderer Lacherfolg: Gesucht wurden Gesichter, die optisch in die DDR der 80er Jahre passen, Männer können die Haare lang tragen, Solariumsbräune ist nicht erwünscht. Die Komparsen für »Inglourious Basterds« wiederum mussten ein zweiwöchiges Schießtraining absolvieren.

Solche Schauplatzbesuche bergen das Versprechen, eine magische Geographie zu entdecken. Die Faszination des Wiedererkennens hat indes ihre Tücken. Meist sind die Orte unscheinbarer, als sie auf der Leinwand wirken. Die architektonische Vielfalt macht Görlitz zu einem Passepartout für unterschiedliche Epochen und Schauplätze. Nur in einer Handvoll Fernsehspielen durfte sie sich selbst spielen. Sonst geht sie als Frankfurt durch (Goethe!«), als Berlin der Nazizeit (»Jeder stirbt für sich allein« u.v.a.) oder als Heidelberg/Neustadt der 50er (»Der Vorleser«). Sie hat das historische Paris gedoubelt (für »In 80 Tagen um die Welt« wurde sogar ein Metro-Eingang nachgebaut; auch das infernalische Kino aus »Inglourious Basterds« steht hier) und sprang für den Markusplatz in Venedig sowie den New Yorker Hafen ein. Kein Wunder, dass ein Leitmotiv der Führung die Tricks der Szenenbildner sind. »Hier können Sie wieder mal sehen, wie man im Kino verschaukelt wird«, sagt Frau Thiemann vergnügt, wann immer sie vor einer Fassade steht, die raffiniert für die Kamera umdekoriert wurde. Die filmischen Illusionen zu entlarven, ohne sie zu entzaubern: das funktionierte an diesem Nachmittag ganz mühelos. Morgen berichte ich Ihnen vom zweiten Tag in Görlitz, wo wir auf Spurensuche nach »The Grand Budapest Hotel« und »Frantz« gingen – und im Vorübergehen noch auf einige andere Drehorte stießen.

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