Rote Amnesie

»Lebewohl, meine Konkubine« (1993)

Unter den Geschichten, die mir mein Brüsseler Freund Marcel im Laufe der Jahre erzählt hat, fasziniert mich die von seinem Aufenthalt in China wahrscheinlich am stärksten. Es kann sein, dass ich Daten und Umstände nicht allesamt korrekt wiedergebe. Aber ich bin überzeugt, atmosphärisch bekomme ich die Eindrücke, die er mir schilderte, auf die Reihe.

Es war in den frühen 60er Jahren. Marcel unternahm gerade seine ersten Schritte als Journalist; ich glaube, er war auch schon als Filmkritiker tätig. Bei einer Abendgesellschaft lernte er einen Beamten aus der Volksrepublik kennen, der ihm von Plänen berichtete, in Peking einen internationalen Radiosender aufzubauen. Das klang nach einer verlockenden Aufgabe, Marcel hielt es zunächst jedoch nicht für ein ernsthaftes Angebot. Aber dann ging alles ganz schnell. Wenige Tage später erhielt er einen Anruf, ob er bereit sei, innerhalb der nächsten ein, zwei Wochen nach China zu reisen. Marcel und seine Verlobte Gisèle (nun ja, fiancée kann im Französischen auch einfach Freundin bedeuten, aber tatsächlich heirateten sie einige Jahre später) hielt nicht viel in Brüssel. Sie mussten deshalb keine Karrieren opfern. Da das Königreich Belgien damals noch keine diplomatischen Beziehungen zur Volksrepublik unterhielt, mussten alle Formalitäten eilig in der Botschaft in den Niederlanden abgewickelt werden.

In Peking wohnten sämtliche ausländischen Journalisten in einem Hotel zusammen. Die Beiden schlossen Freundschaft mit ihren deutsch-, englisch-, französisch- und spanischsprachigen Kollegen. Sie alle wurden mit Nachrichten versorgt, die sie sodann für ihr heimisches Publikum aufbereiteten. Der Sender hatte Frequenzen in mehr als fünfzig Ländern im Westen. Marcel machte sich keine Illusionen darüber, wie streng die Meldungen zensuriert wurden. Es wurde nicht gern gesehen, wenn die ausländischen Gäste die Hauptstadt ohne Begleitung eines Dolmetscher erkundeten. Über dsessen zweiten Auftrag herrschte kein Zweifel. Reisen in die Provinzen fanden selten statt und waren so organisiert, dass die Journalisten nur die Aspekte zu Gesicht bekamen, die dem Regime genehm waren. Es heißt zwar, Zeitzeugenschaft sei eine Form von Unwissenheit. Aber von den Zuständen, die im Land herrschten, bekamen meine Freunde dennoch viel mit. Zuweilen ließ sich das Unbehagen schon im Tonfall eines Dolmetscher vernehmen. Das Scheitern des »Großen Sprungs nach vorn« ließ sich nicht dauerhaft kaschieren Es kursierten Gerüchte über verheerende Hungersnöte in den länglichen Regionen, die sich später als bittere Wahrheit erweisen sollten. Dass sie Millionen von Bauern das Leben kosteten, war noch nicht abzusehen.

Das chinesische Abenteuer meiner Freunde dauerte drei Jahre. Sie verließen das Land rechtzeitig, bevor die Kulturrevolution losbrach. Die Vorzeichen waren aber durchaus zu erkennen und Marcel wusste sie zu deuten. Die Nachrichten, die sie nach Belgien mitbrachten, gefielen ihren maoistischen Freunden ganz und gar nicht. Die hatten sich Erfolgsmeldungen von ihnen versprochen und empörten sich über die vermeintliche Illoyalität des heimkehrenden Paares. Die Wahrheit über die Gräuel der Kulturrevolution kamen erst viel später ans Licht. Das Kino leistete dabei kaum eine aufklärerische Arbeit. Das konnte es auch gar nicht. .

Offiziell begann die Revolution heute vor 50 Jahren mit der berühmten »Mitteilung vom 16. Mai«. Der Vorsitzende Mao verlas auf dem Platz des Himmlischen Friedens sein Manifest wider einen Revisionismus, der die Bewegung angeblich lähmte und stachelte Hunderttausende junger, oft blutjunger Rotgardisten zur Gewalt gegen »bürgerliche« Strömungen an. Nach Marcels Einschätzung ging es Mao bei der Kampagne vor allem um die Konsolidierung der eigenen, bröckelnden Macht, was heute der vorherrschenden Meinung unter Historikern entspricht. Im chinesischen Kino war und ist das brutale Experiment der Partei, das zwischen anderthalb und drei Millionen Menschenleben kostete, ein Tabu, an dem freilich immer wieder gekratzt wird. Während der Revolution war die Filmhochschule in Peking geschlossen. Der erste Jahrgang, der nach ihrer Wiedereröffnung dort studieren konnte, formierte sich zur »Fünften Generation«, zu deren Protagonisten Chen Kaige und Zhang Yimou zählen. Sie haben diese Epoche in ihren Filmen beharrlich thematisiert. Oft umgehen sie das Bilderverbot mit listiger Allegorie. Chen Kaiges Langfilmdebüt »Gelbe Erde« (1984) indes handelt ganz unmittelbar von dieser Zeit. Da soll ein Beamter auf dem Land patriotisches Liedgut sammeln, findet aber statt fröhlicher Gesangstexte nur traurige. Einer meiner Lieblingsfilme, der vom individuellen Überlebenskampf in dieser Epoche der Repression erzählt, ist »Der blaue Drachen« von Tian Zhuangzhuang. Er kam 1993 heraus, was offenbar eine Tauwetterperiode war, denn damals entstand auch Chen Kaiges »Lebwohl, meine Konkubine«. Die chinesische Zensur ist notorisch unberechenbar, auch regionalen Launen unterworfen. Bilder von entfesselten Rotgardisten, die ihre Lehrer totschlagen oder von den Schrecken der Zwangsmigration gelangen immer mal wieder durch die Zensurschleuse auf die Leinwände.

Kaiges »Lebewohl, meine Konkubine« ist in vielfacher Hinsicht bezeichnend. Einerseits legt er seine eigene Biographie schonungslos dar: Als halbwüchsiger Rotgardist denunzierte er seinen eigenen Vater, was sich im Film im gegenseitigen Verrat der beiden Protagonisten spiegelt. Zugleich ist die Kulturrevolution nur eines von mehreren Kapiteln dieser Chronik. Sie wird gleichsam im Episodischen gebannt, wenn auch nicht verharmlost. Nicht nur in Chen Kaiges Filmen ist sie ein Indiz für die zahlreichen Gezeitenwechsel zwischen Kaiserreich und Gegenwart, sondern ganz allgemein eine Tendenz der filmischen Aufarbeitung. Zhang Yimou mag ich hier Unrecht tun; seine Behandlung der Epoche ist mir nicht ganz so eindringlich in Erinnerung. Dass sie ein unumgänglicher Teil der historischen Chronik ist, zeigt sich auch in westlichen Produktionen wie Bertoluccis »Der letzte Kaiser« und David Cronenbergs »M. Butterfly« eindrucksvoll. Wie sehr sich die Kulturrevolution als Projektionsfläche westlicher Phantasien eignete, ist schon früh, ja zeitgleich in Godards »Die fröhliche Wissenschaft« zu spüren, sodann auch in Jean Eustaches »Die Mama und die Hure«. Antonionis epischen China-Film, das muss ich an dieser Stelle eingestehen, habe ich nie gesehen. Ich vermute, sein Befund war nüchterner, realistischer. Maos Kampagne spukt auch in den Köpfen sich radikalisierender Linksaktivisten in Andres Veiels »Wer wenn nicht wir« noch als Faszinosum herum. In »Die wilde Zeit« von Olivier Assayas wird ein Leser von Simon Leys mutiger Entlarvung »Die neuen Kleider des Vorsitzenden Mao« als illoyal denunziert. Mit diesem Vorwurf musste man also damals nicht nur in Brüssel rechnen.

Ihre Jahre in Peking hinterließen deutliche Spuren im Leben meiner Freunde. Marcel wurde zu einem Kenner des asiatischen Kinos (sein Lieblingsfestival ist das in Udine, das sich alljährlich dessen aktuellen Strömungen widmet). Gisèle eröffnete 1976 eine Galerie für fernöstliche Antiquitäten, die mittlerweile den Ruf genießt, zu den weltweit führenden für altchinesische Kunst zu gehören. Sie reist noch immer regelmäßig nach China und Marcel begleitet sie oft. Dabei haben sie den Wandel der Volksrepublik zu einem kapitalistischen Staat hautnah miterlebt. Die Vermutung, Maos Nachfolger hätten sich das Vergessen ihrer Untertanen mit dem Versprechen von ökonomischen Wohlstand erkauft, lässt sich nicht von der Hand weisen. Wang Xiaoshuai, ein Regisseur der »Sechsten Generation«, thematisiert diesen Prozess in seinem jüngsten Film »Red Amnesia«, der 2014 in Venedig lief und danach zwei Jahre in den Regalen liegen blieb. Als er vor einigen Wochen in Frankreich anlief, berichtete er dem Pekinger Korrespondenten von »Le Monde«, ein solch brisanter Stoff sei nicht mehr allein einer bürokratischen, sondern wirtschaftlichen Zensur unterworfen. Für das Vergessen sorge heute allein schon der boomende Filmmarkt: In den Multiplexen sei nur noch Platz für populäre Komödien und Action-Ware, persönliche Filme gingen da völlig unter. Eigentlich wollte er mit dem Filmemachen aufhören. Aber sein Warnruf blieb nicht folgenlos, wurde von der Presse und »Weibo«, dem chinesischen Twitter aufgegriffen. Danach fanden sich doch ein paar Kinos, die »Red Amnesia« zeigen wollten. Und es kamen Zuschauer, die sich an die Vergangenheit erinnern wollten; nicht nur ältere, sondern auch junge.

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