Der Wiederhersteller

John Wilson/Musikfest Berlin 2016. © Peter Adamik

Das ist echte Leidenschaft. Ganze Tage vor dem DVD-Player zu verbringen, nur um ein paar Filmsekunden zu erbeuten! Bislang stand ich in dem Glauben, die Stop-Motion-Animation sei die mühseligste, zeitaufwändigste Tätigkeit im Filmgeschäft. Seit einigen Tagen, seit ich mich eingehender mit John Wilson beschäftigt habe, weiß ich es besser.

Davon später mehr. Zunächst gilt es jedoch festzuhalten, dass der Brite ein wahrer Archäologe der populären Klänge ist. Sein Orchester erweist den großen Songschreibern des Hollywoodkinos so überschwänglich wie kundig Reverenz. Dass ihre Filmmusikprogramme seit einigen Jahren bei den Proms in der Royal Albert Hall schwer Furore machen, wusste ich schon aus der englischen Presse. Gestern Abend konnte ich das famose Orchester live erleben: Es gastierte nebst einem vorzüglichen Gesangsquartett beim Musikfest Berlin.

Mit seinem Programm »A Celebration of the MGM Film Musicals« nahm es sich zwar in diesem Rahmen, der eher von Namen wie John Adams, Pierre Boulez oder Wolfgang Rihm bestimmt wird, wie ein Exot aus. Simon Rattles Empfehlung seiner britischen Landsleute ist allerdings eine willkommene Geste, um landläufige Hierarchien zwischen E- und U-Musik auszuhebeln. Für hiesige Konzertbesucher halten MGM-Musicals einen gelinden Kulturschock bereit: Sie sind eine einzige Propaganda für die Lebensfreude. Die gestrige Einführung von Kevin Clarke sowie sein Text im Programmheft stimmten auf mögliche Irritationen ein, demonstrierten gleichzeitig aber erstaunliches Fremdeln; zeitgeschichtliche Chronologien und Kontexte korrekt dazulegen, ist offenbar eine nachrangige Sorge des Operettenhistorikers. Für den Hinweis, dass »Singing in the Rain« ursprünglich eine Arche-Noah-Nummer in einem früheren Musical war, bin ich ihm indes dankbar.

Simon Rattle/Musikfest Berlin 2016. © Peter Adamik

Und eingangs schien es keineswegs so, als sei Rattles Wette von vornherein gewonnen: Die Philharmonie ist ein heikles Ambiente für solche Unternehmungen – die selbstbewussten Bläser schmetterten zuerst viel zu mächtig und Gesangsstimmen, das weiß man vom Jazzfest, haben gegen die Akustik des Scharoun-Baus einen schweren Stand –, aber das gab sich rasch. Und das Publikum zeigte sich dieser Herausforderung gewachsen, es reagierte weder dünkelhaft noch hüftsteif auf Wilsons Interpretationen von Klassikern wie »Over the Rainow«, »Singing in the Rain« oder »Our love is here to stay«, sondern spendete frenetischen Applaus. Dieses Deutschland-Debüt war ein schöner Triumph und es ist zu hoffen, dass die Einladung bald wiederholt wird.

Es ist freilich auch eine anspruchsvolle, aufgeklärte Nostalgie, die Wilson kultiviert. Er ist gewissermaßen ein Nikolaus Harnoncourt des Great American Songbook: Akribisch recherchiert er die historische Aufführungspraxis. Die Auftritte seines Orchesters sind nicht nur Huldigungen an die Komponisten, sondern stets auch an die exzellente und hoch komplexe Arbeit der Arrangeure. Wenn es also beispielsweise Gershwins »An American in Paris« spielt, handelt es sich nicht um die vertraute konzertante Fassung, sondern um die Bearbeitung fürs Ballett im Film. Sie stammt von Johnny Green und Conrad Salinger, zwei Künstlern, die den üppigen MGM-Sound maßgeblich prägten. Und während die Songs von Harold Arlen, den Gershwins und Cole Porter vorerst unsterblich sind, existieren die Partituren der Filmfassungen größtenteils nicht mehr. Sie sind im Wortsinne verschütt gegangen. Als der Investor Kirk Kerkorian 1969 MGM zum ersten Mal kaufte (auch dies eine hübsche Studie in Beharrlichkeit: Er verkaufte und erwarb es danach noch zweimal), wurde das Musikarchiv aufgelöst. Die Berge von Notenblättern landeten eines Samstagmorgens als Füllmasse im Boden eines Golfplatzes, der auf dem verscherbelten Studiogelände errichtet wurde. In Interviews liefert Wilson gelegentlich noch andere Varianten der Entrümpelung, denen zufolge die Partituren verbrannt oder ins Meer geworfen wurden. Da Bibliotheken oder Archive also kaum Recherchematerial bieten, hat er die Instrumentierungen daheim rekonstruiert, in dem er sich die Stücke auf DVD wieder und wieder anhörte. Er muss Ohren wie ein Luchs haben.

Seine strapaziöse Kleinarbeit zahlt sich aus. Er belebt nicht museale Musik neu, sondern erstattet ihr den Schwung zurück, den sie damals schon hatte: Die alte Aura gewinnt frischen Zauber. Sein Orchester stelle ich mir als eine Bande verschworener Enthusiasten vor. Ihre Interpretationen sind gefiltert durch eine britische, also zugleich innige und ferne Begeisterung für die Musikkultur der vormaligen Kolonie. Amerika. Die Originaltreue aber ist stupend: Wenn man die zugehörigen Filmszenen nicht sieht (ein gescheites Prinzip der Wilson-Konzerte), erstaunen regelmäßig die langen Instrumentalpassagen zwischen den Gesangspartien (in dieser Zeit wurde auf der Leinwand eben immer getanzt). Der Gesangstil selbst ist eine Zeitreise: Wer die Songs eher in der Überlieferung von Jazzinterpreten kennt, wird sich wundern, wie sehr sie in den Filmen noch einer gleichsam vormodernen Oper- oder Operettentradition verhaftet sind. Das vollzog sich gestern Abend dankenswerter Weise ganz ohne gefällige Ironie. Die Sänger waren exzellent, vor allem Matthew Ford, der wunderbar in die Fußstapfen von Gene Kelly treten kann und selbst schwächere Cole-Porter-Nummern zu veredeln weiß. Louise Dearman gab »I got Rhythm« und »Get Happy« ungemein schmissig; trotz der eingangs erwähnten akustischen Probleme hatte auch ihr »Trolley Song« aus »Meet me in St. Louis« Witz. Der lyrische Bariton Richard Morrison und die glamouröse Scarlett Strallen wiederum waren im Duett und solo berückend. Die Funken flogen wunderbar zwischen ihnen und den Musikern. Ich hoffe, dieser Zauber teilt sich auch in der Aufzeichnung mit, die in einigen Tagen wahrscheinlich in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker abrufbar ist – freuen Sie sich auf jeden Fall auf die Zugabe mit einem prominenten Paukenspieler (siehe hier). Die Alben, die das John Wilson Orchestra bislang veröffentlicht hat, sind kein vollgültiger Ersatz für das Live-Erlebnis, aber mitreißend genug. Ich mag besonders die mit den Hollywoodarbeiten von Cole Porter und George Gershwin; bei Rogers & Hammerstein hingegen stört mich Letzterer (warum also nicht noch eines mit Rodgers & Hart?). Sofern die CDs nicht Konzertaufzeichnungen sind, nimmt John Wilson sie gern in der Abbey Road auf – nicht in dem Studio, in dem die Alben der Beatles entstanden sind, sondern in Studio 2, das 1932 speziell für Big Bands eingerichtet wurde.

Meinung zum Thema

Kommentare

Nur weil ich es gern verstehen würde: Was heißt denn, dass es in meiner Einleitung/Programmhefttext ein "erstaunliches Fremdeln" gab und dass "zeitgeschichtliche Chronologien und Kontexte" nicht "korrekt" dagelegt wurden? Danke vorab für die Klarstellung.

Sehr geehrter Kevin Clarke,

 

gern ergreife ich die Gelegenheit dazulegen, was genau mich an ihren Texten und der Einführung irritierte. Im Blog musste es hauptsächlich um John Wilson, sein Orchester und das Konzert gehen, da konnte mein Unbehagen an Ihren Ausführungen nur eine untergeordnete, wenngleich unumgängliche Rolle spielen. Da ein Großteil der Leser die besagten Äußerungen nicht kennt, wird dies allerdings eine bedauerlich exklusive Zwiesprache zwischen uns. Hoffen wir mal, dass einige Punkte von allgemeinem Interesse sind.

Zum „erstaunlichen Fremdeln“: Wenn ein Autor über Filme schreibt und diese als „Streifen“ bezeichnet, ist das ein untrügliches Indiz dafür. Dieser altbackene und spießige Begriff hätte schon in den 1950er Jahren aus dem Vokabular verschwinden müssen. Und warum weisen Sie wiederholt nur darauf hin, dass die erwähnten Musiknummern im Internet abrufbar sind? Wenn Ihnen an einer Rehabilitation der Filme selbst gelegen wäre, könnten Sie doch auch deren Verfügbarkeit erwähnen. Aber womöglich sind diese Ihnen doch zu fern? Dass Sie den Schauspieler Louis Jourdan nicht von dem Jazzmusiker Louis Jordan zu unterscheiden wissen, will ich Ihnen hingegen nicht unterstellen - das wird wohl einfach nur ein Tippfehler gewesen sein.

Zu historischen Kontexten & Chronologien: Es braucht schon einige Chuzpe, die Musicals, die in Hollywood zu Beginn der Tonfilmära entstanden, als „Schnellschüsse ohne besondere kinematografische und klangtechnische Qualitäten“ abzutun. Warum unterschlagen Sie hier mutwillig die Bahn brechenden Filme von Ernst Lubitsch und Rouben Mamoulian sowie die enormen ästhetischen Fortschritte, die das Genre (beispielsweise mit „Applause“) früh in Hollywood machte? Hätte dieser Kontext die Bedeutung der unter Erich Pommer bei der UFA entstandenen Tonfilmoperetten tatsächlich geschmälert? Allenfalls in der Hinsicht, dass Sie sie nicht mehr als Pionierleistungen hätten verkaufen können. Die gingen zwar um die Welt. Aber wird es Ihnen selbst nicht mulmig, wenn Sie sie als entscheidende Impulsgeber der späteren Musical-Tradition in Hollywood darstellen? Diese ist nämlich durchaus kontinuierlich und selbstbezüglich.

Sie scheint für Ihre Ausführungen aber erst nach 1933 interessant, als die UFA ihre vermeintliche Vormachtstellung im Genre einbüßt. An diesem Punkt kommen Sie natürlich auf die Musicals von RKO (Fred Astaire und Ginger Rogers), Warner Brothers (Busby Berkeley) sowie MGM zu Sprechen. Hier unternehmen sie einen kühnen Zeitsprung, um endlich zur Lichtgestalt Arthur Freed zu kommen, dem Produzenten, der maßgeblich den Stil der MGM-Musicals prägte. Tatsächlich tat er dies aber erst ab 1939; seine erste Produktion war bekanntlich „The Wizard of Oz“. Noch ungenauer wird es in Ihrem Beitrag für die Zeitung des Musikfests, wo Sie von der Rezeption diverser US-Musicals in Nazi-Deutschland schreiben und ihren Erfolg als Verdienst des Produzenten bezeichnen, obwohl Freed an ihnen allenfalls als Songschreiber beteiligt war. Diese chronologischen Unstimmigkeiten wundern mich besonders, weil sie ohne Not eingeflochten sind: Es nimmt Freed ja nichts von seinem Rang, wenn seine große Zeit erst ein paar Jahre später beginnt als in der Filmgeschichte, die Sie konstruieren.

Diese Ungenauigkeiten setzen sich fort in Ihrer Schilderung der Rezeption der MGM-Musicals in Nachkriegsdeutschland. Für die hiesige Geringschätzung machen Sie Siegfried Kracauer (Können wir uns auf das „c“ im Nachnamen einigen? Ihr Text schwankt da etwas.) verantwortlich und führen sein Buch „Von Caligari zu Hitler“ an. Auch hier gilt es einen gewagten Bogen zu schlagen, von den Musikkomödien des Dritten Reichs zu denen des US-Kinos der Nachkriegszeit. Darauf kann die Filmgeschichtsschreibung darauf heute glücklicherweise diffenzierter schauen. Kracauers Buch erschien in der Bundesrepublik überdies erst 1958, elf Jahre nach der amerikanischen Erstausgabe - mithin zu einem Zeitpunkt, als die große Zeit der Arthur-Freed-Musicals vorbei war. Als Verhinderer einer deutschen Wertschätzung dieses populären Genres taugt er also nur bedingt.

Auf Ihre Einführung bin ich noch gar nicht eingegangen, aber diese Erwiderung ist ohnehin schon lang genug. Ich hoffe, sie trägt zu dem von Ihnen gewünschten Verstehen bei.

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