Sterne im Konjunktiv

Wir werden natürlich immer ihre Filme haben. Auf jedes Jahr, in dem sie vor der Kamera stand, kommt im Schnitt einer. So viele sind das eigentlich gar nicht, rund 50 insgesamt. Es sind einige Klassiker darunter; indes weniger, als man auf Anhieb gedacht hätte. Sie finden sich vor allem in ihrem ersten Jahrzehnt in Hollywood, danach sind die unvergesslichen Filme spärlicher gesät. 
In ihrer Rollenauswahl war sie, sofern es ihre Verträge zuließen, selbstbewusst und umsichtig. Gegen Pech oder Irrtümer ist die selbst klügste Schauspielerin nicht gefeit.  Würden wir Ingrid Bergman, die heute vor 100 Jahren in Stockholm geboren wurde, mit anderen Augen sehen, wenn wir der Liste ihrer Filme ein paar weitere hinzufügen oder andere austauschen würden? Wie viele Filmfans liebe ich die Spekulation, das Spiel mit Phantomfilmographien, den Konjunktiv in Star-Karrieren. Als ob die Filmgeschichte, so wie sie verlaufen ist, unsere Phantasie nicht schon genug anregen könnte. 
Eventuell hätte Bergman noch mehr Filme mit ihrem guten Freund Cary Grant gemacht. Für „Vor Hausfreunden wird gewarnt“ und „Die große Liebe meines Lebens“ war sie im Gespräch. Wir müssen nicht bedauern, dass daraus nichts wurde.  Deborah Kerr war prächtig in den betreffenden Rollen. Aber wie hätte „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ ausgesehen mit den Beiden? Abgründiger, humorvoller, rissiger? Mike Nichols hatte sie immerhin  zeitweilig auch für „Die Reifeprüfung“ im Auge. Was wäre dann aus Anne Bancrofts Karriere geworden?
Diese Lust am „Was wäre wenn?“ teile ich mit meinem britischen Kollegen Tony Crawley. Er hat sich zwar seit ein paar Jahren aus dem operativen Geschäft zurückgezogen, bastelt aber täglich an seiner Website crawleyscastingcalls.com , auf der man lauter wunderbar überflüssigen Informationen darüber findet, wer welche Rolle auch hätte spielen können oder sollen. Ein work-in-progress und eine Heidenarbeit. Da wir befreundet sind, trage ich häufig zu ihr bei. Weil dabei aber kein Geld fließt, ist es ganz unverfänglich, wenn ich hier auf sie hinweise. Warum habe ich es eigentlich nicht schon früher getan?
Ich tummle mich beinahe in jeder Woche auf ihr. Gerade gestern habe ich mir seine Einträge zu Robert Pattinson angeschaut (aber davon mehr bei nächster Gelegenheit).  Die Seite ist übersichtlich: Es gibt ein Alphabet der Schauspieler, eine Liste von Special movies wie „Vom Winde verweht“, „Casablanca“ „Der Pate“ oder die Bond-Serie, deren Besetzungsgeschichte voller Mysterien und Überraschungen steckt. Die Liste der Champions ist auch toll, sie wird angeführt von Marlon Brando, der 140 Angebote ausgeschlagen hat. Man kann Tage auf der Site verbringen. Ein famoser Zeitvertreib - besonders dann, wenn man eigentlich dringendere Sachen zu erledigen hätte.   
Manchmal denke ich, es könne tatsächlich nützlich sein, wenn ich sie konsultiere. Beispielsweise, wenn ich kurzfristig einen Nachruf oder einen Geburtstagsartikel über einen Filmstar schreiben soll. Auch als ich den Auftrag bekam, für die „Berliner Zeitung“ über Bergman zu schreiben, habe ich natürlich sofort nachgeschaut, was uns da womöglich entgangen ist. Dabei bin ich auf verblüffende Dinge gestoßen, etwa John Hustons Verfilmung von „Der Malteserfalke“ (die Femme fatales lagen Bergman nicht), den ersten Scope-Film „Das Gewand“ (uninteressant und überdies aussichtslos, schließlich war sie nach dem Ehebruch mit Roberto Rossellini in Hollywood in Ungnade gefallen) oder, wo wir schon bei Sandalenfilmen sind, „Spartacus“ (die Jean-Simmons-Rolle). In der Imdb, die Tony akribisch studiert, hätte ihm der Hinweis auf „Planet der Affen“ auffallen können (ich muss ihm gleich eine Mail schicken). Es finden sich auch Rollen, in denen man sich Bergman partout nicht vorstellen kann: „Alles über Eva“ gehört Bette Davis, da gibt es kein Vertun. Interessanter sind da schon Filme, in denen sie nonchalant Rollen mit anderen Darstellerinnen getauscht hat: in der Jekyll-und-Hyde-Verfilmung „Arzt und Dämon“ sollte ursprünglich Lana Turner das ruchlose Barmädchen spielen (eine kluge Entscheidung, denn Anfang der 40er ist Bergmans Filmographie doch ein wenig monothematisch in der Gutherzigkeit der Figuren); in „Mord im Orient Express“ war sie eigentlich für die Rolle vorgesehen, die dann Wendy Hiller spielte (nicht so klug, denn ich finde, das war der unverdiendeste der drei Oscars, die Bergman gewann). Für meinen Artikel hat der Blick auf die Seite wenig gebracht. Es ist schon interessant genug, was sie tatsächlich gespielt hat. Aber missen möchte ich die Zeit nicht, die ich auf ihr verbracht habe. 

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