Nicht haftbar

Auch das Metier des freischaffenden Journalisten kennt seine Rituale und Unausweichlichkeiten. Der Beruf des Filmkritikers hält zumindest eine Besonderheit bereit. Wann immer man ihn bei einer Party erwähnt, wird man augenblicklich um aktuelle Empfehlungen gebeten. Ich nehme an, das passiert Kunst-, Musik oder Theaterkritikern erheblich seltener.

Natürlich ist es schmeichelhaft, wenn einem Expertenwissen unterstellt wird. Aber mich bringt die Frage regelmäßig in Verlegenheit. Woher soll ich wissen, was meinem Gegenüber gefallen könnte? Deshalb habe ich es mir zum Prinzip gemacht, bei solchen Anlässen die Frage einfach umzukehren. Das ist keine bloße Geste der Höflichkeit. Es interessiert mich tatsächlich, was nicht-professionelle Kinogänger bewegt. Am letzten Wochenende ergab sich diese Gesprächssituation, als ich mich in einem Kreis sehr kulturaffiner Menschen wiederfand, die den Umzug einer gemeinsamen Freundin nach Wien feierten (respektive bedauerten). Die Filme, die meine Gesprächspartner in der letzten Zeit besonders beeindruckt hatten, waren Leviathan, Timbuktu und Wild Tales (vielleicht waren die nicht von ungefähr für den Auslandsoscar nominiert). Vor allem Letzterer beschäftigte sie. Das freute mich: Dessen Spielart eines gewissermaßen humanistischen Zynismus' kommt also auch bei Leuten an, die ein paar Jahre, vielleicht gar eine Generationen älter sind als ich.

Am Tag darauf wurde mir klar, wie arglos unsere Gespräche verliefen. Niemand stellte einen Bezug her zu der Tragödie, die Deutschland, Europa und die Welt seit einigen Tagen erschüttert: der Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen. Wäre es nicht naheliegend gewesen, eine Verbindung herzustellen zu der ersten Episode, in der ein Mann namens Pasternak aus Rache sämtliche Fluggäste mit sich in den Tod nimmt? Wir dachten nicht daran. Am Morgen stöberte ich in den Internetseiten einiger britischer Tageszeitungen. Wild Tales ist gerade dort angelaufen und die Parallelen zwischen Kino und Realität waren ein großes Thema. Der "Telegraph" druckte etliche Tweets ab, die sämtlich über einen Zusammenhang spekulierten. Twitter ist, wie ich bei dieser Gelegenheit feststellen konnte, kein Medium, das gedankliche Tiefe oder Originalität ermutigt. Das muss die Betroffenheit nicht schmählern.

Eine ursächliche Verbindung des Films zu dem mutmaßlichen Massenmord durch den Co-Piloten Andreas L. lässt sich nach meiner Einschätzung nicht herstellen, so verlockend dies auch scheint. Ich glaube, wir taten auf besagter Party Recht daran, den Film für sich stehen zu lassen. Die Pasternak-Episode ist furchtbar und witzig zugleich. Sie ist voller Raffinement inszeniert, aber ohne eine Arglist, die über die Belange des Kinos hinausginge. Der Schrecken, der dort erzeugt wird, ist nicht justiziabel, sondern bestenfalls kathartisch. Unser Lachen, vielleicht sogar unsere Schadenfreude, bewegen sich in einem geschützten Raum. Was wir im Kino empfinden, steht nicht über dem Gesetz oder der Moral. Aber es genießt eine größere, schuldlosere Freiheit. Der Film sei im Augenblick not suitable viewing, lautete ein Kommentar in England. Diese Reaktion ist verständlich. Banal und engstirnig ist sie auch. 

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