Entgiftet

Bei ihm geht es meist ums Ganze. Das Schicksal der Welt steht auf dem Spiel. Das war für uns Außenstehende in den letzten Jahren ein Schauspiel, an dem wir keine ungetrübte Freude haben konnten. Als Kind, das vertraute er vor langer Zeit einem befreundeten Journalisten an, hegte er globale Rettungsphantasien. Er entwickelte ein Pensum von Ritualen, die er jeden Abend vor dem Schlafengehen absolvierte: in der Hoffnung, die Welt vor der atomaren Auslöschung zu bewahren. Diese ist bislang ausgeblieben. Allerdings hat er später Melancholia gedreht.

Lars von Triers kindlichen Glauben an die eigene, magische Kraft darf getrost man als Indiz der Selbstüberschätzung lesen. Er ist wohl auch Ausdruck der Rebellion: Dieser große Widerspruchsgeist wurde in einen Haushalt geboren, in dem man den Atheismus mit gewissermaßen religiöser Inbrunst pflegte. (Später konvertierte er bekanntermaßen zum Katholizismus.) Und sein Hang zum Melodram mag man als späte Rache deuten für eine Kindheit, in der die Sentimentalität keinen Platz haben durfte. Vielleicht fühlt er sich ja auch auf dem Set zuweilen als ein Weltenretter. Das Mandat, das dieser Filmemacher sich auferlegt, ist natürlich nicht zu erfüllen. Warum bürdet er sich eine solche Last auf? Will man als Regisseur nicht manchmal auch erlöst werden von der Angst, die Kontrolle zu verlieren?

Alkohol und andere Drogen helfen da womöglich. Unlängst ist von Trier an die Öffentlichkeit getreten mit dem Bekenntnis, er habe Angst, seine Kreativität einzubüßen, nachdem er trocken geworden ist. Wir müssen ihn mithin als einen Märtyrer betrachten, der bislang ein verhängnisvolles Opfer im Namen seiner Kunst auf sich nahm. Ich glaube, in diesem Punkt dürfen wir ihn, der bisweilen schon als Mensch mit großer Begabung zur Selbstironie und provokanter Publicity hervorgetreten ist, durchaus ernst nehmen. Das Schreiben früherer Drehbücher habe ihn kaum zwei Wochen gekostet, an Nymph()maniac hingegen habe er mehr als ein Jahr gearbeitet. Die Struktur des Films beglaubigt in gewisser Weise seine Furcht, die Quellen seiner Inspiration könnten versiegen. Sie legt Rechenschaft ab: Während der erste Teil rauschhaft erzählt ist, macht sich im zweiten Ernüchterung breit.

Jenseits der persönlichen Tragik wirft von Triers Interview mit der dänischen Tageszeitung „Politiken“ philosophische Fragen auf. Er bezweifelt, dass ein ehemals süchtiger Künstler je wieder zu seiner früheren Form zurückfand, nachdem er zum Abstinenzler wurde. Das lässt sich auf Anhieb schwer verifizieren. „Künstler“ sind ein weites Feld. Die Filmgeschichte immerhin kennt diverse Beispiele von Regisseuren, die als Alkoholiker relativ gut funktionierten. Sam Peckinpah fällt einem da sogleich ein. John Frankenheimer ist das einzige Beispiel für einen trockenen Alkoholiker, das mir unter Regisseuren bekannt ist. Nach dessen großer Zeit in den 1960ern befand sich dessen Schaffen im freien Fall, sein Talent blitzte nur ganz selten noch einmal auf, bis er in seinem letzten Lebensjahrzehnt noch einmal ein spektakuläres Comeback im Fernsehen und im Kino mit Ronin feierte. Da gelangen ihm Arbeiten, die durchaus mehr sind als nur ein Abglanz der Brillanz, zu der er einmal fähig war. Aber die kreative Durststrecke bis dahin war schon verflixt lang.

Interessanterweise macht von Trier seine Angst vor dem Verlust der Kreativität explizit an der Drehbucharbeit fest. Nun sind Alkohol und andere Drogen ja keine Quelle der Inspiration, sondern Hilfsmittel, diese freizusetzen. Sie lösen Blockaden oder öffnen gedankliche Räume. Luis Bunuel etwa schätzte den Nutzen von Spirituosen hoch ein, besonders den von Gin. Er hat sogar einen eigenen Cocktail erfunden, den Bunueloni. (Das ist eine Variation des berühmten Negroni - statt Campari nimmt man Punt e Mes, der mit viel Gin und einem Hauch trockenen Vermouth gemixt wird.) Die Apéritifstunde war für ihn und seinen Co-Autor Jean-Claude Carrière ein heiliges Ritual, das den Arbeitstag strukturierte und schöpferische Abendstunden einläutete. So etwas ist natürlich immer eine Frage der Disziplin und des Maßhaltens, was im Falle von Triers, siehe Eröffnungssatz, wahrscheinlich keine Option ist. Auch Hemingways erfahrungssattes Motto "Betrunken schreiben, nüchtern redigieren" greift hier wohl nicht.

Welche Auswege bleiben dem Dänen also? Vielleicht kann er auf alte Drehbücher zurückgreifen? Immerhin hegte er das Projekt, Jean Genets "Die Zofen" mit Penelope Cruz zu adaptieren und die "Justine" des Marquis de Sade. Die Filme, die daraus entstehen könnten, würde ich gern sehen. Aber noch lieber einen Stoff, der auf sein eigenes Konto geht. Bei einem so unberechenbaren Publicity-Strategen wie von Trier wäre es natürlich denkbar, dass dies Bekenntnis eine Finte ist. Auf diese Weise kann man seine Kritiker entwaffnen. Umso begeisterter könnten die Reaktionen auf seinen nächsten Film ausfallen, wo doch nun alle Welt weiß, welch heroische Anstrengung er ihn gekostet hat.

An derlei Kalkül mag ich indes nicht recht glauben. Im Laufe der Jahre habe ich, trotz aller Ärgernisse, die er uns bereitet hat, große Sympathie für ihn entwickelt. Warum nicht? Melancholia, Dogville und andere Filme geben mir recht. Vielleicht habe ich mich von ihm einwickeln lassen, aber ich sehe ihn als einen Gepeinigten. Vor zwei Monaten bin ich ihm bei einer Preisverleihung begegnet. Er wurde zusammen mit Martina Gedeck, Tom Tykwer und Bertrand Tavernier ausgezeichnet. Auf Letzteren hielt ich eine Laudatio. Später am Abend kam von Trier auf mich zu, schüttelte mir die Hand und bedankte sich. Ich vermute, er verwechselte mich mit seinem Laudator. Gefreut hat mich die Geste trotzdem. Seither ist mir diese Verwechslung teuer. Denn zuvor, auf der Bühne, konnte man sehen, wie sehr seine Hände zitterten. Dieser Tremor sei eine Folge der Anti-Drepressiva, erklärte mir später eine Mitarbeiterin des Festivals. Dieser Mann, der noch nicht einmal 60 ist, wirkte gebrechlich wie ein Greis. Alles schien ihn eine ungeheure Kraftanstrengung zu kosten. Sentimentalität war in seinem Elternhaus untersagt. Aber ich wünsche mir, er würde weiter Filme machen.

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