Streaming-Tipp: »Beginning«

Clip © Wild Bunch International/TIFF

Hell – Dunkel

Die Dunkelheit außerhalb der streng kadrierten 35-mm-Bilder von »Beginning« verheißt nichts Gutes. Selten geht vom Off, von den schwarzen Rändern der kinematografischen Welt, eine solch bedrohliche Suggestivkraft aus wie in Dea Kulumbegashvilis eigenwilligem Debüt.

Gleich in der ersten der vielen langen, meist unbewegten Einstellungen wird der Trigger gesetzt für jene unheilvolle Dialektik von innen und außen, die den gesamten Film durchzieht. Eine Totale in den Königreichssaal hinein: Langsam finden sich die Gemeindemitglieder der Zeugen Jehovas ein, man unterhält sich, bevor die Predigt über Abrahams Versuch, seinen Sohn zu opfern, beginnt. Sieben Minuten spirituelle Vorbereitung und Praxis, die jäh von einem aus dem Off in den Raum fliegenden Brandsatz zerrissen werden, der das gesamte Gebäude niederbrennt. Es war, wie wir kurz darauf erfahren, nicht der erste Anschlag auf die Jehovas-Gemeinde in jenem christlich-orthodox geprägten georgischen Bergdorf, in dem Kulumbegashvilis Film spielt. Die Gemeinde lebt in Isolation und Anfeindung, doch erneut will Gemeindevorsteher und Missionar David (Rati Oneli) ein neues Gotteshaus bauen. 

Mit dem extremistischen Terror nimmt die Geschichte von Davids Frau Yana (Ia Sukhitashvili) ihren Anfang. Sie ist, davon zeugt auch die Enge der quadratischen, im 1:33-Format geschossenen Bilder (Kamera: Arseni Khachaturan), eine Gefangene: gefangen in den eigenen vier Wänden, in denen große Teile des Films spielen, wenn sie nicht gerade den Kindern der Gemeinde, darunter auch ihr Sohn Giorgi (Saba Gogichaishvili), Glaubenslehre erteilt. Und gefangen auch in ihrer Beziehung zu ihrem Mann. 

Isolation und Gewalt sind zwei große Themen, die Kulumbegashvili in ihrem Debüt durchdekliniert. Was, wenn eine schon kriselnde hermetische Existenz von außen bedroht wird? In den wie in Stein gemeißelten, teils schmerzlich langen Einstellungen bricht sich der Horror in Person von Alex (Kakha Kintsurashvili) Bahn. Beim ersten Treffen in Yanas Wohnung begibt sich der vermeintliche Polizeibeamte ins Off und löchert die Frau mit intimen Fragen: »Fickt dein Mann dich auf der Couch?« Später dann, es ist Nacht, wird er sich, gefilmt aus einiger Entfernung, an einem Fluss an ihr vergehen, dass einem das Blut in den Adern gefriert. 

Es steckt eine kalkulierte Kälte in diesem Film, die auf oft abstoßende Weise in den Bann zieht. Ist Kulumbegashvili eine unbarmherzige Filmemacherin? Jedenfalls mutet sie ihren Figuren und dem Publikum einiges zu, und zwar mit einer für eine Debütantin verblüffenden formalästhetischen Perfektion. Sie zelebriert eine Austerität, wie man sie, mit stärkerem moralischen Impetus, von einem Michael Haneke oder, mit Anleihen aus dem absurden Theater, vom frühen Yorgos Lanthimos kennt. Dass Kulumbegashvili in einem Atemzug mit Cristian Mungiu oder Cristi Puiu, Regisseuren der »Romanian New Wave«, genannt wird, passt ebenso ins Bild wie die Beteiligung des mexikanischen Filmemachers Carlos Reygadas als ausführender Produzent.

Eigentlich sollte »Beginning« im letzten Jahr in Cannes Premiere feiern. Die coronabedingten Änderungen im Festivalzirkus machten es möglich, dass der Film schließlich in San Sebastián regelrecht Preise abräumte: neben dem Hauptpreis, der Goldenen Muschel, gewann er für die beste Regie, das beste Drehbuch und die beste Schauspielerin.

Kulumbegashvilis Film ist ein sperriges, schwer zu fassendes Biest, eine feministisch-allegorische, biblisch grundierte Kritik an Patriarchat und Kirche, die sich zu einer bestialisch ambivalenten Emanzipationsgeschichte entwickelt. Selbst im »hellsten« Filmmoment schwebt die immerwährende ängstliche Ungewissheit mit: Während dieser unfassbaren fünfeinhalb Minuten, in denen die Kamera auf das Gesicht der auf einem blättergesäumten Waldboden liegenden Yana draufhält, beginnt man sich gemeinsam mit dem verängstigten Sohn irgendwann selbst zu fragen, ob sie wirklich die Augen wieder öffnen wird.

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