Netflix: »Bir Başkadır«

»Bir Başkadır« (Staffel 1, 2020). © Netflix

»Bir Başkadır« (Staffel 1, 2020). © Netflix

Immer mehr Sympathie

Mehr Vielfalt zu zeigen, ist eins der Versprechen des Streamingmarkts. Nur selten geht es auf so beglückende Weise in Erfüllung wie im Fall von »Bir Başkadır« (Ethos). Kaum vorstellbar, wie vor Netflix-Zeiten eine türkische Serie über den ganz gewöhnlichen türkischen Alltag mit ganz gewöhnlichen Menschen als Helden zu uns ins heimische Wohnzimmer hätte finden sollen. Denn weder lässt sie sich über eine Tat – der Lieblingsaufhänger des deutschen Fernsehens – noch über eine aktuelle These verkaufen. »Acht Menschen in Istanbul« – noch nicht einmal der Untertitel stimmt. Denn sämtliche Hauptfiguren haben auch noch Eltern, Familie, Freunde oder schütten auf einmal einem Fremden, der zum Tee eingeladen ist, ihr Herz aus. Tatsächlich ist am ehesten das zentrale Thema der Serie das Reden an sich. Genauer gesagt: sein häufiges Misslingen. 

Statt der geschliffenen Dialoge der angloamerikanischen Serien gibt es in »Ethos« die hochdifferenzierte Darstellung von Misskommunikation. Etwa eine Therapeutin, Peri (Defne Kayalar), die ihre kopftuchtragende Klientin Meryem (Öykü Karayel) nicht verstehen will. Als sie davon ihrer Supervisorin, der Therapeutin Gülbin (Tülin Özen) berichtet, kann die wiederum ihre innere Verächtlichkeit gegenüber Peris Hochmut kaum verbergen. Gülbin erzählt ihrem Liebhaber Sinan (Alican Yücesoy) davon, den seinerseits einzig die Frage umtreibt, ob Gülbin nun bei ihm übernachtet oder nicht. Ein echter Höhepunkt der Misskommunikation ist erreicht, wenn Sinan in einer späteren Folge die eigene Mutter besucht. Sie hat ihn angerufen, nun fragt er, was los ist. Worauf die Mutter lediglich wiederholt, es sei alles in Ordnung, sie habe nur angerufen, weil der Nachbarssohn darauf bestanden habe. Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren.

So gut, so realistisch präzise zeichnet die Serie die verschlungenen Wege des Redens und Meinens nach und wie wenig das eine oft mit dem anderen zu tun hat, dass man die Wutausbrüche von Yasin (Neil Vanides) nur zu gut verstehen lernt. In einem anderen Kontext wäre Yasin, wenn nicht der Bösewicht so doch der Unsympath der Geschichte. Aber im fein gesponnenen Kontext von »Ethos« wird der ungehobelte Familienvater dem Zuschauer immer sympathischer. Wo man zuerst einen primitiven Schläger sieht, der seiner Schwester Meryem willkürlich ihre Therapiebesuche verbietet und in dem Nachtclub, in dem er arbeitet, sich zu Handgreiflichkeiten verleiten lässt, da lernt man mehr und mehr einen komplizierten Mann kennen, der für seine Empathie selten die richtigen Worte findet und sie deshalb reflexhaft in Wut umleitet. »Ich muss dir was sagen, aber ärgere dich bitte nicht«, so fangen die Frauen in seinem Leben, Schwester Meryem genauso wie Ehefrau Ruhiye (Funda Eryigit), manches Mal die Aussprache mit ihm an. Und immer wieder geht es schief. Dabei, so stellt sich heraus, versteht er sie doch so gut, weiß um ihre Sehnsüchte, um das, was sie bedrückt. Nicht sie machen ihn wütend, sondern dass er ihnen nicht helfen kann.

Sympathischer werden sie einem alle, die zehn, zwölf Figuren im Zentrum von »Ethos« genauso wie ihre weiteren Angehörigen, die sich über die acht Folgen zu einem Panorama der türkischen Gesellschaft zusammensetzen, inklusive Tabuzonen wie Kurden, Homosexualität und Vergewaltigung. Zum Geheimnis der Autoren gehört, dass dieses aktuelle soziologische Abbild sich völlig organisch herauszuschälen scheint, ganz ohne pflichtschuldiges Repräsentieren. Und erst recht gibt es kein Gut und kein Böse, kein Richtig oder Falsch in diesem Moloch aus Säkulär oder Gläubig, Weiblich oder Männlich, Gebildet oder Bildungsfern, Redebegabt oder Sprachbehindert. Intensive, widersprüchliche Gefühle haben sie alle. Und wie Meryem einmal mit einem kleinen Geschenk ihren dampfplaudernden Verehrer zum Verstummen bringt, das kann sich mit den besten RomComs messen.

OV-Trailer

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