Spanisches Kino: Die Wirklichkeit neu erfinden

Lewis MacDougall in »Sieben Minuten nach Mitternacht« (2016)  © Studiocanal/Jose Haro

Lewis MacDougall in »Sieben Minuten nach Mitternacht« (2016) © Studiocanal/Jose Haro

Humor und Horror ­– das war in den letzten Jahren oft die Formel spanischer Filme. In diesem Monat läuft mit »Sieben Minuten nach Mitternacht« ein berührendes Horrormärchen an. Wolfgang Martin Hamdorf hat sich umgeschaut im neueren spanischen Film

Alte Grabsteine stürzen um. Ein riesiger missmutiger Baum mit glühenden roten Augen trägt einen kleinen Jungen über den Abgrund, der sich mitten im Friedhofsrasen plötzlich aufgetan hat. »Sieben Minuten nach Mitternacht« (A Monster Calls) war 2016 der erfolgreichste Film in den spanischen Kinos. 25 Millionen Euro hat die Produktion gekostet, 22 Millionen hat die Buchverfilmung nach Patrick Ness allein in den spanischen Kinos eingespielt.

Horror und andere Genres

Für Juan Antonio Bayona ist das nichts Neues, schon sein Debüt, der Gruselfilm »Das Waisenhaus« (El orfanato, 2007) und das Tsunami-Drama »The Impossible« (2012) gehörten zu den erfolgreichsten Filmen in den spanischen Kinos. Das Horror- und Gruselgenre triumphiert in einem Land, das nur wenige musikalische und literarische Traditionen im Gruselgenre hat, aber viele spanische Filmemacher sind heute fasziniert von den klassischen Genreformen, vom Horror- oder Fantasyfilm. Es begann mit Alejandro Amenábar, der 1996, gerade 23 Jahre alt, sein Debüt, den Hochschulthriller »Tesis«, auf der Berlinale vorstellte und sich mit großen Namen vom spanischen Autorenfilm absetzt: »Mit Buñuel kann ich nichts anfangen, meine Vorbilder sind John Ford und Alfred Hitchcock.« In seinen weiteren Filmen machte er eine Reise durch unterschiedliche Genres, mit Penélope Cruz in dem Psycho-Science-Fiction-Thriller »Open Your Eyes« (Abre los ojos, 1997), mit Nicole Kidman in dem verhaltenen Gruselfilm »The Others« (2001).

»[REC]« (2007). © 3L Filmverleih

Ein wichtiger Schritt für die Entwicklung des Genres ist auch »[Rec]« (2007), in dem Jaume Balagueró und Paco Plaza mediensatirische Elemente mit Horror-, Katastrophen- und Science-Fiction-Elementen vermischen. In vielen Nebenfiguren und Handlungselementen werden dabei Themen der spanischen Populärkultur aufgegriffen: Die Formeln des trivialen Fernseh-Infotainments werden ebenso aufs Korn genommen wie die Sensationslust der Nachbarn oder die bösartigen Vorbehalte unter verschiedenen ethnischen Gruppen. Zu »[Rec]« und seiner Protagonistin, der Fernsehjournalistin Angela Vidal, dem Kameramann Pablo und der EB-Kamera gab es bereits 2008 ein US-amerikanisches Remake, »Quarantine«, und vier weitere Fortsetzungen in Spanien. »[Rec]« verbindet die Grundelemente des Horror- und Katastrophenfilms mit schwarzem und überzogenem Humor, dem »esperpento«, der in Spanien tiefe kulturelle und literarische Wurzeln hat. Eine gelungene Mischung, die immer wieder auch die Filme des 51-jährigen Álex de la Iglesia prägt. Seit seinen ersten Filmen »Acción mutante« (1993) oder »El dia de la bestia« (1995) verbindet er virtuos dramatische und komische Aspekte, verknüpft universelle Genre-Elemente mit authentischem Lokalkolorit, einer aus dem Alltag gegriffenen Situationskomik und der sehr spanischen Lust, über sich selbst zu lachen. Was bei Pedro Almodóvar das Melodrama ist, ist bei Álex de la Iglesia immer Action und Spannung. Sein neuster Film »El bar«, im Februar auf der Berlinale vorgestellt, ist fast eine Hommage an »[Rec]«, auch hier befindet sich eine Gruppe völlig unterschiedlicher Menschen plötzlich eingeschlossen in einer Madrider Altstadtkneipe, bedroht von einer tödlichen Seuche und dem spanischen Polizeiapparat, der sie möglichst schnell liquidieren möchte.

Eine dunkle Atmosphare

Die Zahl spanischer Genrefilme ist seit den 1990er Jahren extrem angestiegen. Zum einen gilt das Genre als Zauberformel für den Weltmarkt, zum anderen beschwören Genrefilme Existenzbedrohungen oder tiefe Verlustängste in einer immer unsicher werdenden Gesellschaft auf eine fast kathartische Weise. Das gilt auch für den Anstieg des Krimis und der Gangstergeschichten, die sich mit der Korruption und der Wirtschafts- und Finanzkrise auseinandersetzen: Banken werden ausgeraubt, um dort gelagerte geheime Listen korrupter Politiker zu vernichten, bis in die letzte andalusische Strandbar reicht der Arm der Mafia, und andere Filme erzählen von gnadenloser Ausbeutung in der Arbeitswelt. In den Filmen zur Krise verkörpern die Firmen und die Banken das Böse in einem erstarrten Wirtschaftssystems, das den Einzelnen ausbeutet, ihn seiner Wirklichkeit entfremdet und vernichtet. Verbrechen finden statt in einem gesellschaftlichen Umfeld, das durch und durch korrupt ist. In einem der ästhetisch und dramaturgisch interessantesten spanischen Filme des vergangenen Jahres, »Tarde para la ira«, dem Regiedebüt des Schauspielers Raúl Arévalo, nimmt ein Exhäftling Rache an zwei Gangstern, die ihn bei einem Überfall auf ein Juweliergeschäft verraten haben, aber diese Geschichte einer Rache ist nur Teil einer dunklen, schmutzigen gesellschaftlichen Grundstimmung. Auch »Mörderland« (La isla mínima, 2014) ist ein sehr atmosphärischer Krimi, der gleichzeitig über die Unsicherheit in Zeiten politischen Umbruchs erzählt, über einen Serienmörder im Mündungsdelta des Guadalquivirs südlich von Sevilla. Die Geschichte spielt im Jahre 1980, in der Zeit des Übergangs von der Franco-Diktatur zur Demokratie, und für Regisseur Alberto Rodríguez geht es in seinem dritten Film besonders um das Lebensgefühl jener Jahre. »Man lebte mit zusammengebissenen Zähnen, das charakterisiert diese Zeit besonders. Die sozialen und politischen Konflikte, die Eskalation der Gewalt sind die Grundströmung für unseren Film, diese Zerrissenheit, die sich auch in den beiden Kommissaren zeigt, von denen jeder eine politische Richtung verkörpert.«

Sein nächster Film erzählt wieder von gesellschaftlicher Korruption: »El hombre de las mil caras« (zu deutsch: »Der Mann mit den tausend Gesichtern«, 2016) führt zurück in die 1990er Jahre, als der damalige Chef der »Guardia Civil«, der paramilitärischen spanischen Polizei Luis Roldán, mit mehreren Billionen Peseten aus der Staatskasse einfach verschwand. Für Alberto Rodríguez ist seine bittere Politsatire »nicht nur eine Geschichte der 1990er Jahre, das Problem der Korruption haben wir bis heute nicht in den Griff bekommen«.

Spanischer Humor

Die Korruption und die Verfilzung der geschäftsführenden Eliten, der gigantische Reichtum an der Spitze, während die kleinen Leute Arbeit und Wohnung verlieren, sind aber auch Thema vieler spanischer Komödien: In »Incidencias« (»Vorfälle«, 2015) von José Corbacho und Juan Cruz bleibt ein Hochgeschwindigkeitszug auf offener Strecke stehen und hat mitten in der eiskalten kastilischen Hochebene keine Verbindungen mehr nach außen. Ein junger Franzose arabischer Herkunft löst durch sein Gebet eine gefährliche Wut und Panik unter den Reisenden aus. Incidencias ist eine Satire über die zunehmende Panik und Fremdenfeindlichkeit, die Spanien und ganz Europa beherrscht. Die Komödien sind nach wie vor das beliebteste Genre beim spanischen Publikum und haben die Zuschauer trotz der starken Wirtschaftskrise wieder in die Kinos gelockt. Regionaler Humor machte »Ocho apellidos vascos« (8 Namen für die Liebe, 2014) und die Fortsetzung »Ocho apellidos catalanes« (»8 katalanische Nachnamen«, 2015) zu den erfolgreichsten Blockbustern der spanischen Filmgeschichte. Emilio Martínez Lázaro erzählt vom katalanischen und baskischen Nationalismus und beide Filme leben in erster Linie vom Lachen über regionale Vorurteile zwischen Andalusiern, Basken und Katalanen.

»8 Namen für die Liebe« (2014). © Alamode

Das gilt auch für »Perdiendo el norte« (Ab nach Deutschland, 2015). Nacho G. Velilla erzählt von zwei arbeitslosen Jungakademikern, die in Berlin ihr Glück suchen, aber niemand braucht sie, und das Unverständnis zwischen den Kulturen führt von einem Lacher zum nächsten. Dass Velillas spanischer Brachialhumor durchaus international sein kann, hat er 2016 bewiesen, als er Regie bei »No manches Frida«, dem mexikanischen Remake des deutschen Blockbusters »Fack ju Göhte«, führte.

Sozialer Realismus und magische Momente

Anderen Filmemachern gelingt es aber auch immer wieder wesentlich leiser und mit zahlreichen Zwischentönen, Gesellschaftskritik und sozialen Realismus erfolgreich an die Kinokassen zu bringen: Allen voran Icíar Bollaín, eine genaue Beobachterin der sozialen Verhältnisse in Spanien und besonders der Situation der Frauen. Ihr jüngster Film ist »El olivo« (Der Olivenbaum, 2016) über eine junge Frau, die aufbricht, um einen uralten Olivenbaum aus Deutschland zurück nach Spanien zu bringen. Icíar Bollaín mischt elegant den politischen Film mit dem Familiendrama und dem Roadmovie. Der Baum wird zum Symbol für den Ausverkauf von kulturellen und sozialen Werten, Almas Familie spiegelt den ganzen Niedergang der spanischen Gesellschaft in den letzten Jahren wider. Der zweite wichtige Repräsentant des sozial engagierten Films ist Fernando León de Aranoa, der nach seinen ersten Filmen über Jugendliche in trostlosen Vorstädten, Arbeitslose an der galizischen Küste oder Prostituierte in der Madrider Altstadt im Feuilleton gerne als »der spanische Ken Loach« bezeichnet wird. Sein jüngster Film mit dem ironischen Titel »A Perfect Day« (2015) erzählt mit schwarzem Sarkasmus vom donquijotesken Kampf einer internationalen Hilfsorganisation in einem Bürgerkriegsgebiet. Fernando León de Aranoa mag die Realität, aber nicht unbedingt den akribisch genauen oder pedantischen Realismus: »Ich mag einfach die Wirklichkeit neu erfinden. In all meinen Filmen gibt es ja auch immer wieder magische, unwirkliche oder absurde Momente. Ich brauche die Wirklichkeit schon für meine Geschichten, aber die Wirklichkeit ist eben oft nicht realistisch.« Diese Fähigkeit, über eine exakte Beobachtung hinaus gleichzeitig eine Atmosphäre zu schaffen und gesellschaftliche Entwicklungen widerzuspiegeln, zeigt die 29-jährige katalanische Regisseurin Carla Simón Pipó in ihrem autobiografischen Debüt »Estiu 1993« (2017). Über eine beeindruckende Schauspielführung vermittelt sie ganz natürlich und beiläufig die magischen Momente eines Sommers auf dem Lande und die Trauer eines Mädchens, dessen Mutter gerade an Aids gestorben ist.

Die tote Mittelklasse und der neue unabhangige Film

Der aktuelle spanische Film zeichnet sich durch ein Nebeneinander der Generationen und eine Vielfalt der Themen, Genres und Subgen­res aus. Diese Vielfalt liegt auch an einer zunehmenden Dezentralisierung. Neben den traditionell autonomen Filmregionen – wie dem Baskenland und Katalonien – kommen seit Jahren auch Impulse aus anderen Gegenden, etwa aus Valencia, Andalusien und Galizien. Im Zuge der Wirtschaftskrise ist die Produktionslandschaft kommerzieller geworden, die Projektfilmförderung wurde eingestellt, und auch die arg beschnittenen öffentlichen Fernsehkanäle setzen auf finanziell sichere Großprojekte. »Die Mittelklasse ist tot«, sagt Enrique López Lavigne, der spanische Produzent von »Sieben Minuten nach Mitternacht«.

»Sieben Minuten nach Mitternacht« (2016). © Studiocanal

Die Produktionslandschaft hat sich polarisiert. Auf der einen Seite die großen kassenträchtigen Produktionen, die von privaten Medienkonzernen wie Mediaset (Telecinco), Antena 3 Media oder Movistar finanziert werden, und auf der anderen Seite kleine Low-Budget- oder eher No-Budget-Produktionen, die dann, wenn überhaupt, auf Festivals zu sehen sind. Verloren gegangen sind ausreichend finanzierte kreative Projekte, Autorenfilme und besonders Dokumentarfilme, die nicht in die engen Schablonen der Fernsehsender passen und auch in den Kinosälen keinen Platz mehr finden. Viele junge Regisseure beginnen heute auf eigene Faust, mit neuen kleinen Produktionsfirmen, mit anderen Finanzierungsansätzen wie etwa dem Crowdfunding oder anderen Spendenstrategien. Oft handelt es sich um Filme, die zwischen Fiktion und Dokumentarfilmen angesiedelt sind, als bewusste Gratwanderungen zwischen Inszenierung und Dokumentation, wie »La plaga« (2013) der katalanischen Regisseurin Neus Ballús. Es sind Filme, die mehr ein formaler, ästhetischer und weniger ein inhaltlicher Protest gegen den Perfektionismus des spanischen Genrefilms sind. Das gab es auch schon vorher, Filmemacher wie José Luis Guerín, Marc Recha oder Pablo Llorca standen seit den 1990er Jahren für ein unabhängiges spanisches Kino. Durch die vereinfachten Produktionsmöglichkeiten und die Krise, beziehungsweise den Zusammenbruch des bisherigen Filmförderungssystems, hat diese Bewegung allerdings zugenommen.

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