Reisen durch Raum und Zeit

Über Ang Lee und seine beiden neuen Filme »Ride With the Devil« und »Tiger & Dragon«
»Tiger and Dragon« (2000)

Foto: © Arthaus Filmverleih

Absolute Momente

Nach einem heftigen Feuergefecht mit Soldaten der Nordstaaten liegen zwei junge Männer, Freunde und Streiter für die Werte des Südens während des amerikanischen Bürgerkrieges, gemeinsam in ihrem Waldlager. Einem von ihnen wurde während des Kampfes der kleine Finger abgeschossen; nun betrachtet er den übriggebliebenen Stumpf, lächelt, und beginnt allen Ernstes, die Vorteile seiner Verstümmelung zu erklären. Sein Freund kann kaum glauben, was er da zu hören bekommt. Das ist ein Moment in Ang Lees US-Bürgerkriegsdrama Ride With the Devil, der changiert zwischen Irrsinn, Groteske und Tragik. Und doch wird die ganze verquere Lage des Helden (Tobey Maguire), der in romantischer Verklärung für eine Sache kämpft, an die er nicht wirklich glauben kann, amüsant und zugleich nachdenklich stimmend auf den Punkt gebracht.

Diese Szene ist typisch für das Kino von Ang Lee, der in fast jedem seiner Filme die aberwitzigen Situationen seiner Helden in kurzen Augenblicken auf den Punkt bringt: Da sitzt zum Beispiel in Das Hochzeitsbankett ein schwuler Chinese mit einer zwei Meter großen Opernsängerin, die ihm von seinen Eltern zugeführt wurde, am Ufer eines Flusses, nachdem sich beide gestanden haben, dass sie gar nicht aneinander interessiert sind - und plötzlich fängt die Frau an, wie in Trance aus voller Kehle eine melancholische Arie zu intonieren. Oder die Szene in Sense and Sensibility, in der Hugh Grant der liebeskranken Emma Thompson offenbart, dass der Weg frei ist, für eine gemeinsame Zukunft: da beginnt Thompson plötzlich, völlig unkontrolliert ein Geräusch von sich zu geben, dass irgendwo zwischen Glucksen, Wimmern, Lachen und Schniefen anzusiedeln ist, und man weiß nicht genau, ob sie sich nun freut oder durchdreht.

Von dem Monolog des Südstaaten-Kriegers bis zum Sirenengesang am Flussufer sind das absolut unerwartete Momente, die ebenso wahnwitzig und absurd anmuten, wie die Situationen und Lebensumstände der Figuren. Fast immer sind diese Verhaltensweisen Reaktionen auf äußere Umstände oder Bürden, die sich die Menschen bisweilen selbst auferlegt haben. Für gewöhnlich geht es in den Filmen von Ang Lee sehr gesittet, um nicht zu sagen repressiv zu. Es fällt den Helden schwer, sich die Idiotie einer Situation einzugestehen oder ihre Gefühle, sei es Unmut oder Liebe, zu äußern: Da wird verklärt oder geleugnet, und insofern ist es kein Wunder, wenn sich irgendwann all die aufgestauten Emotionen Bahn brechen und man alles in die Welt hinausbrüllt oder sich wie der alte chinesische Tai-Chi-Meister in Pushing Hands einfach nicht mehr vom Fleck rührt.

In dem elektrisierenden Schwertkämpfer-Drama Tiger & Dragon wird dieses System freilich umgedreht: Da entladen sich unterdrückte Emotionen fortwährend in Aktionen - die Menschen fangen an, durch die Luft zu sausen, als bereite ihnen das Überwinden der Schwerkraft keine sonderliche Mühe, und Gefühle wie Eifersucht, Liebe oder Hass manifestieren sich in balletthaften, furios choreografierten Kämpfen, die zu Lande, in der Luft oder auf den Wipfeln eines leuchtend grünen Bambuswaldes stattfinden - gerade so, als würde jedes Innehalten die Protagonisten zwingen, sich verbal mit ihren Regungen auseinander zu setzen. Was in den anderen Filmen Ang Lees kurz aufblitzende Momente sind, wird hier zum Dauerzustand.

Zwischen zwei Kulturen

Ride With the Devil und Tiger & Dragon könnten auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein. Der erste ist ein elegisches Bürgerkriegsdrama um einen jungen Mann, der in Missouri lebt und sich der Südstaaten-Guerilla, den "Bushwackers" anschließt. Aber nicht etwa, weil er so tief verwurzelt wäre in der Gesellschaft dieser Region - Jake Roedel (Maguire) wird als Sohn deutscher Einwanderer, die zudem auf Seiten der "Yankees" stehen, von den Konföderierten eher geduldet als respektiert. Es ist die Loyalität zu seinem besten Freund Jack Bull Chiles (Skeet Ulrich), einem waschechten Southerner, der den 17-Jährigen gegen die Ansichten seines Vaters rebellieren lässt. Eine episch gerahmte und doch intime Reflexion über das Erwachsenwerden eines mächtigen Landes ist dieser Film, erzählt aus der Perspektive der gerne verteufelten Südstaatler.

Tiger hingegen ist ein Martial-Arts-Film alter Schule, angesiedelt zur Zeit der Qing Dynastie, inszeniert im Stil einer chinesischen Oper. Ein meisterlicher Schwertkämpfer namens Li Mu Bai (Chow Yun Fat) tritt darin gemeinsam mit seiner Kampfgefährtin Yu Shu Lien (Michelle Yeoh), mit der ihn eine stille Liebe verbindet, gegen die niederträchtige Hexe Jade Fuchs an, die einst Mu Bais väterlichen Meister getötet hat. Mit Hilfe einer jungen Diebin aristokratischer Herkunft, die ihrer in Traditionen erstarrten Umgebung entfliehen will, hat Jade Fuchs nun das sagenumwobene Schwert "Grünes Schicksal" gestohlen, das einst Mu Bai gehörte. Tiger ist meisterhaftes Unterhaltungskino: ein romantisches Märchen, voll großer Gesten, vielsagender Blicke und zauberhafter Orte - in manchen Momenten fast so expressiv wie ein Stummfilm. Einen "Traum von China" nennt ihn Ang Lee. Es ist ein schöner Zufall, dass die beiden Werke hier zu Lande gleichzeitig ins Kino kommen, da sie den Blick freigeben auf die Haltung des Regisseurs zu seinen beiden Heimatländern: einerseits eine Meditation über einen prägenden Abschnitt der Geschichte des Landes, in dem der 1954 geborene Taiwanese Lee seit dem Beginn seiner Studienzeit 1978 lebt. Und auf der anderen Seite ein Fantasiebild von der chinesischen Heimat, das "so vielleicht nur in meinen Kinderfantasien in Taiwan existierte". Möglicherweise liegt in diesen Kontrasten eine Form des Kinos der "Métissage", das Georg Seeßlen im letzten Heft (12/2000) darstellte, ein Weg also, mit dem "Leben zwischen den Kulturen" umzugehen: liebevolle Verklärung der alten Heimat einerseits, respektvoll-kritische Auseinandersetzung mit der neuen Heimat andererseits - in beiden Fällen umgesetzt mit einer Sensibilität, die eindeutig von beiden Kulturen beeinflusst ist.

Ein Blick auf Ang Lees Filmografie zeigt gleichwohl, dass er sich seit jeher mit schlafwandlerischer Sicherheit von Kultur zu Kultur, durch Raum und Zeit bewegt: seine ersten beiden Filme, Pushing Hands und Das Hochzeitsbankett waren in New York angesiedelt, Eat Drink Man Woman spielte in seiner Heimatstadt Taipeh; mit Sense and Sensibility (Sinn und Sinnlichkeit) begab er sich ins ländliche England des Jahres 1810, The Ice Storm (Der Eissturm) führte ihn ins Amerika der frühen siebziger Jahre und Ride with the Devil ins Amerika von 1863. Tiger schließlich ist im China des beginnenden 19. Jahrhunderts angesiedelt: Lees Filmografie bewegt sich kreuz und quer über den Globus und durch die Weltgeschichte - und doch treffen sich die einzelnen Linien, verbindet Lee die Epochen und Orte, indem er überall genau jene Themen aufspürt, die ihn faszinieren und die sich, wie er zeigt, in jedem Milieu, jeder Kultur, jedem Zeitalter auf ähnliche Weise kristallisieren. Inhaltlich könnte man Ang Lee also einen "Auteur" nennen, wenngleich er sich stilistisch stets dem Spielort seiner Filme anpasst - meist greift er bei der visuellen Ausarbeitung seiner Werke auf Inspirationsquellen aus der bildenden Kunst zurück: die klaren Kompositionen und die Farbgebung Vermeers bei Sense and Sensibility, wobei die gothisch anmutenden, nebligen Szenen mit Kate Winslet offenkundig von dem Romantiker William Turner beeinflusst sind, bei dem sich Formen oftmals in Fluten von Licht und Farbe verlieren. The Ice Storm wiederum besitzt die kühle Klarheit des Fotorealismus, rückt Objekte in den Vordergrund, die ebenso starr und scharfkantig wirken wie die Beziehungen der Charaktere. Viele Einstellungen des grandios fotografierten, mitunter an John Ford gemahnenden Ride With the Devil orientieren sich an Arbeiten amerikanischer Künstler des 19. Jahrhundert sowie des Bürgerkriegs-Fotografen Matthew Brady, während Tiger & Dragon bisweilen wie ein zum Leben erwachtes chinesisches Aquarell anmutet.

Rituale, Traditionen

Ganz gleich ob im England von Jane Austen oder dem heutigen Taipeh - in jedem seiner Filme beschäftigt sich Ang Lee mit dem Spannungsfeld, das sich zwischen filigranen Familienstrukturen, Sehnsüchten Einzelner und gesellschaftlich geprägten Verhaltensmustern und Erwartungen ergibt. Vermutlich durch seine asiatische Herkunft hat er ein besonderes Gespür für Rituale, Traditionen und die Zwänge, die den Menschen von ihrer Umgebung auferlegt werden. Zugleich entlarvt er die Leere, die sich hinter mechanisch ausgeführten Riten verbirgt und den Einzelnen daran hindert, mit sich selbst ins Reine zu kommen. In Eat Drink Man Woman läuft einem als Zuschauer zunächst das Wasser im Mund zusammen, wenn man den Vater dabei beobachtet, wie er zahllose Köstlichkeiten zubereitet. Im Verlauf des Films aber wird immer deutlicher, dass das sonntägliche Essen mit seinen drei Töchtern zu einem sinnentleerten Ritual verkommen ist, bei dem kaum gesprochen wird, ja bei dem den Kindern sogar im wahrsten Sinne der Mund gestopft wird, sobald sie dazu ansetzen, ihre persönlichen Probleme zur Sprache zu bringen. Anders als in Filmen wie Tuccis Big Night ist die gemeinsame Mahlzeit kein Anlass, der die Kommunikation fördert - das Essen ist hier vielmehr an die Stelle von Kommunikation getreten. Kein Wunder also, dass die Töchter die Leckereien des Vaters mit Skepsis betrachten und dass man auch als Zuschauer schon bald den Hals voll hat von den Kochkünsten dieses Mannes, der erst in der Küche richtig auflebt, obwohl gerade er seinen Töchtern etwas Wichtiges mitzuteilen hätte.

Von Menschen umgeben sein und sich dennoch unendlich einsam fühlen, das ist eine Situation, die fast alle Helden Ang Lees kennen, vom Vater in Pushing Hands, den sein Sohn vor dem Fernseher abstellt, über Jake, der immer wieder spürt, wie wenig man ihn als Deutschen akzeptiert, bis hin zu der jungen Zhang in Tiger & Dragon, die von allen Seiten reglementiert, zurechtgewiesen oder ausgenutzt wird.

Im Hochzeitsbankett und Pushing Hands sind es, wie in Eat Drink und Tiger, die traditionellen Erwartungen der Eltern und die daraus resultierenden Schuldgefühle der Kinder, aus denen der zentrale Konflikt entsteht: der Wunsch nach einer klassischen chinesischen Hochzeit hier und die Erwartung, dass man sich aufopfernd um den alten, einsamen Vater kümmert dort - und auf der anderen Seite die Wünsche der Kinder nach einem selbstbestimmten Leben. Aber so wie der Vater in Pushing Hands die Tai-Chi-Lehre der Balance, des harmonisierenden Ausgleichs betreibt, versucht auch Ang Lee stets, Verständnis für die Bedürfnisse beider Seiten aufzubringen. Freilich sind es zu guter Letzt meist die Alten, die sich von ihren Vorstellungen verabschieden müssen. Gleichwohl wirkt diese Loslösung von überholten Wertesystemen auch für sie wie eine Befreiung: In Pushing Hands und Eat Drink Man Woman beginnt für die weisen Väter ebenso ein neuer, spannender Lebensabschnitt wie für ihre Kinder. Letztlich sind es "Coming-of-Age"-Geschichten, die Lee hier erzählt, nur dass es die Eltern sind, die einen Reifeprozess durchmachen müssen.

Ging es in dieser so genannten "Father-knows-Best"-Trilogie auch um einen Zusammenprall westlicher und östlicher Kultur (nicht zufällig arbeitet die jüngste Tochter in Eat Drink bei McDonald's) und dabei nie um eine sentimentale Verschmelzung beider Kulturen, sondern speziell in Pushing Hands um einen Rückzug, so konzentrierte sich Lee in seinen folgenden drei Filmen ganz auf delikate Analysen westlicher Gesellschaftsysteme. In Sense and Sensibility etwa kann schon die kleinste Äußerung oder die geringste Geste aberwitzige Konsequenzen nach sich ziehen, von offen ausgesprochenen Gefühlsregungen ganz zu schweigen. Wie immer beobachtet Lee die Anstrengungen seiner Figuren, sich in einem Labyrinth aus Regeln und Erwartungen zurecht zu finden, mit einer Mischung aus kulturhistorischer Akribie, Zärtlichkeit und Amüsement. In vielerlei Hinsicht ist Sense das Herzstück von Lees Œuvre: Die starken Frauen finden sich hier ebenso wie das repressive Umfeld, das den Einzelnen zu ersticken droht. Der Film ist eine Entwicklungsgeschichte und eine Ode an die Familie, doch vor allem wird in Sense der Gegensatz von Gefühl und Verstand, den es in jedem Ang-Lee-Film gibt, so deutlich verhandelt wie in keinem seiner anderen Werke. Womöglich gleicht Austens England auch am ehesten Lees strenger Heimat - jedenfalls beweist er ein unerhörtes Gespür für die Darstellung jener Gesellschaft, mit all ihren Feinheiten und Falltüren.

In Sense nahm Lee erstmals eindeutig die Perspektive der jungen Menschen ein. Und auch in seinen nächsten beiden Arbeiten, die zusammen mit Sense so etwas wie eine "West-Trilogie" ergeben, erzählt er seine Geschichten aus der Sicht Jugendlicher, die auf der Suche nach sich selbst auf eine Welt stoßen, die sich ebenfalls in einer Phase des Umbruchs befindet. In The Ice Storm ist es das Watergate-geschüttelte Amerika, in dem die Erwachsenen angestrengt versuchen, die "sexuelle Revolution" auszuleben, und in Ride With the Devil ist es der Bürgerkrieg, der Nachbarn zu Todfeinden machte - zwei Umbrüche, die das bürgerliche Amerika tiefgreifend geprägt haben. Nicht zufällig wird in The Ice Storm eine klassische amerikanische Mittelstandsfamilie bis ins Mark erschüttert, während die Nachbarschaftskriege in Ride im Herzen Amerikas angesiedelt sind, in den Staaten Missouri und Kansas. Wie Sense und The Ice Storm ist Ride With the Devil ein Sittenbild, in dem es Lee einmal mehr gelingt, anhand von Einzelschicksalen das Bild einer Gesellschaft, einer Epoche zu zeichnen. Und wie fast all seine Filme beginnt Ride mit der Beobachtung einer Bewegung, mit Dingen oder Menschen, die in Gang kommen: in The Ice Storm etwa ein zur Fahrt ansetzender Zug, Motorräder, die durch Taipeh sausen in Eat Drink, ein Ritt durch die Nacht in Sense - sanfte Sinnbilder für bevorstehende Veränderungen. In Ride With the Devil reitet Jake Roedel zu einer Hochzeitsfeier, die Lee einerseits nutzt, um die Hauptfiguren vorzustellen sowie den bevorstehenden Kriegskonflikt anzukündigen, wo er aber auch kurz Gelegenheit bekommt, seiner Liebe für gesellschaftliche Rituale und Feierlichkeiten zu fröhnen - kaum ein Ang-Lee-Film, in dem nicht mindestens einmal geheiratet wird oder eine formelle Feier stattfindet, und sei sie noch so merkwürdig ritualisiert wie die Schlüsselparty in The Ice Storm oder die durchgeknallte Hotelzimmerfete im Hochzeitsbankett. Man denkt bei der Hochzeitsfeier in Ride an The Deer Hunter, wo ebenfalls eine Gruppe junger Männer ein letztes Mal feierte, bevor sie in den Krieg zog. Und tatsächlich: das nächste Mal, wenn wir Jake und Jack Bull sehen, haben sie sich bereits den Bushwackers angeschlossen und metzeln eine Truppe von Nordstaatlern nieder. Die effektiv, aber nie effekthascherisch inszenierten Kampfszenen vollziehen sich in Ride immer schnell, fast explosionsartig. Man merkt, dass Lee den Zuschauer mitreißen will, ohne ihm wirklich Gelegenheit zu geben, sich bei den Gewalttaten zu "amüsieren", und er macht einen feinen, aber deutlichen Unterschied, zwischen kühlem, ideologisch verbrämtem Töten und dem lustvollen Morden, wie es der Bushwacker Pitt Mackeson betreibt, der von dem reptilienhaften Jonathan Rhys-Meyers mit seinen glasigen Augen wie ein wahnsinniger, selbstverliebter Popstar gespielt wird.

Es ist ein Wagnis von Ang Lee, seine Geschichte aus der Sicht der Südstaatler zu erzählen, wenngleich er die Ziele dieser Menschen keineswegs beschönigt oder gar unterstützt. Und wenn Maguire seinen Kumpanen gestohlene Briefe der Nordstaatler vorliest und klar wird, dass deren Mütter - natürlich - die gleiche Angst um ihre Söhne haben wie ihre eigenen, gibt Lee den beiden Parteien damit eine menschliche Verbundenheit jenseits aller politischen Schranken. In solchen Szenen wird das ganze tragische Ausmaß dieses Krieges spürbar, den Lee ganz bewusst mit Anspielungen auf vergleichbare, aktuelle Konflikte in Osteuropa inszeniert.

Trotz allem lässt sich jedoch eine gewisse Wehmut ausmachen, wie Lee hier den Untergang einer traditionsreichen Gesellschaft beschreibt - die altehrwürdigen Südstaaten, mit ihren gut gekleideten Gentlemen, die in einer der amüsantesten Szenen des Films ausgehungert in einem Erdloch sitzen, beim Anblick einer Dame aber dennoch den Hut ziehen und beste Manieren an den Tag legen. Ang Lee selbst sagt, er sehe in dem Sieg der Yankees über den Süden den Beginn der amerikanischen Kulturhegemonie.

Dieser Beziehungsreichtum, der gleichwohl ganz unaufdringlich daherkommt, gepaart mit einem an sich schon ungewöhnlichen Blick auf den amerikanischen Bürgerkrieg, den vielen, präzise ausgearbeiteten Charakteren und dem puren "Craftmanship" der filmischen Umsetzung, machen Ride With the Devil zum bislang komplexesten Ang-Lee-Film, vielleicht sogar zu seinem besten.

Neuanfänge

Wie Kate Winslet in Sense und Christina Ricci in Ice Storm beobachten auch Jake Roedel in Ride und die blutjunge Zhang Ziyi in Tiger & Dragon ihre Umwelt und das Treiben der Erwachsenen ein wenig unsicher, verhalten aufsässig, bisweilen dickköpfig. Und bei allen steht dabei eine Rebellion gegen die Ansichten der Eltern im Zentrum - wie der eher passive Roedel zieht die ungleich temperamentvollere Zhang ein Leben der Ungewissheit, des ständigen Kampfes, einem Leben der unauffälligen Sicherheit im elterlichen Hause vor. Am Ende freilich stellen sich diese Eskapaden als Reifeprozess heraus, als Auswüchse jugendlichen Leichtsinns, dem die Einsicht folgt. In beiden Filmen steht den Heißspornen ein älterer, weiser Mann gegenüber, der das Treiben der "Kinder" mit amüsiertem Spott beobachtet, zugleich aber mit seinen eigenen Tumulten des Herzens, mit den Widersprüchen aus Verstand und Gefühl, zu kämpfen hat: in Tiger & Dragon ist das Chow Yun Fat als Schwertkämpfer, dem ein Ehrenkodex verbietet, seiner Gefährtin Michelle Yeoh seine Liebe zu gestehen, und in Ride With the Devil ist es der wunderbare Jeffrey Wright als befreiter Sklave Daniel Holt, der seinem aristokratischen Retter (exzellent: Simon Baker) aus Ehrgefühl und Dankbarkeit bis in den Tod ergeben ist, obwohl er nur darauf wartet, endlich seine nach Texas verkaufte Mutter zu suchen. In Holt, dem Beobachter im Hintergrund, bündeln sich, stärker noch als in dem deutschen Außenseiter Jake, all die paradoxen Gefühle, mit denen der Zuschauer wie auch Ang Lee selbst dem mystischen Süden gegenüber stehen. Am Ende aller Filme steht gleichsam ein sanfter Sieg der Emotionen: von Pushing Hands über Sense and Sensibility bis hin zu Ride With the Devil enden sämtliche Filme mit einem familiären Neubeginn; selbst Tiger & Dragon deutet am Schluss, gleichsam poetisch überhöht, die Aussicht auf ewige Liebe an.

Man hat Lee speziell nach The Ice Storm ein konservatives Weltbild vorgeworfen, wegen seiner bitteren Darstellung freizügigen Sexes und ehelicher Untreue. Dabei ist Lee im Gegenteil ein überaus progressiver Filmemacher, der all seine Helden gegen gesellschaftliche Normen ankämpfen lässt und gerade in Tiger & Dragon die Geschichte einer weiblichen Emanzipation in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft erzählt - mit seinen drei starken, weiblichen Hauptfiguren möchte man ihn fast einen "feministischen" Film nennen. Und der Sex der Erwachsenen in The Ice Storm ist nur deshalb so traurig, weil es verkrampfte Akte ohne jedes Gefühl sind, ohne Sinnlichkeit - man erinnere sich nur an den leidenschaftslosen Drei-Sekunden-Quickie von Joan Allen und Jamey Sheridan auf dem Vordersitz ihres Wagens. Das ist Sex, der nicht aus Lust entsteht, sondern weil man glaubt, es "so" machen zu "müssen". Und es markiert einen wunderbaren Moment der Erkenntnis, wenn Allen direkt nach ihrer furchtbaren "Auto-Nummer" ihrem betrunkenen Mann (Kevin Kline) zärtlich über den Kopf streicht. Die körperlichen Annäherungsversuche der Kinder dagegen mögen merkwürdig erscheinen (wie erste sexuelle Gehversuche Frühpubertärer immer etwas Merkwürdiges an sich haben), doch gilt ihnen ganz offenkundig Lees Sympathie, da sie aus einem natürlichem Bedürfnis erwachsen, einer Neugierde und einer Sehnsucht nach Zärtlichkeit, die ihnen von ihren Eltern verwehrt wird. Lee mag ein Idealist sein, wenn es um Familie und Liebe geht, doch der Traum von einer funktionierenden Beziehung macht einen noch nicht konservativ, sondern schlimmstenfalls naiv-optimistisch.

So herrscht auch am Ende von Ride With the Devil bedachte Aufbruchstimmung: Gemeinsam mit seiner Frau, die er nach außen aus reinem Ehrgefühl, in Wahrheit aber aus stiller Liebe geheiratet hat, bricht Jake gen Westen auf. Seine wallende, romantische Mähne hat er gegen einen adretten Kurzhaarschnitt eingetauscht - wie sich auch das ganze Land nach dem Ende des Bürgerkriegs von seinen "alten Zöpfen" befreite und einen Neubeginn wagte.

Kurz zuvor sehen wir Jake nervös das Baby der Südstaatlerin im Arm halten; das Kind kreischt unaufhörlich, bis es anfängt, zufrieden am Stummel von Jakes abgeschossenem Finger zu nuckeln: eine hübsche Anspielung auf seine Äußerung, dass die Verstümmelung durchaus ihre Vorteile hat. Vor allem aber ein schönes Sinnbild der Versöhnung eines Landes, das mit sich selbst Krieg führte. Und Holt, der Ex-Sklave, macht sich auf die Suche nach seiner Mutter; mit einer kleinen aber zutiefst symbolischen Geste verabschiedet er sich von Jakes Baby und seiner friedlich schlafenden Frau, die ihm als Südstaatlerin zunächst misstrauisch gegenüber stand - ein subtiler Akt der Versöhnung, eine kleine Handbewegung, die alles auf den Punkt bringt: Diese Szene ist in ihrer Zartheit und ihrer emotionalen Reinheit von einer großen Wahrhaftigkeit - ein Hauch von Zen vielleicht, oder von der Lehre der Balance. Auf jeden Fall wunderschön.

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