Narzisst? Moralist!

Frühvollendet: Xavier Dolan jongliert mühelos mit Formaten, Genres und Pop-Zitaten
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Fünf Filme in sechs Jahren. Ein Preis in Cannes, den er sich mit Godard teilte. Berauschende Kritiken. Und das mit 25. Der Kanadier Xavier Dolan ist die neue Hoffnung des Autorenfilms. Jetzt kommt sein Melodram Mommy bei uns ins Kino.

Eine zunächst noch unfassbare, aber letztlich nur ungeheuer konsequente Eskalation. Es beginnt schrecklich alltäglich. Während die Lehrerin vorne etwas an die Tafel schreibt, bewerfen einige Schüler den Außenseiter in ihrer Klasse mit Papierbällen. Schließlich fliegt ihm ein Stift ins Gesicht und hinterlässt eine dunkle Träne auf seiner Wange.

Doch es bleibt nicht bei diesen schlichten Ritualen der Demütigung. Gewalt hat ihre eigene Logik. Wer von keinem aufgehalten wird, geht weiter und weiter. Also wird der von Antoine-Olivier Pilon gespielte souffre-douleur, der homosexuelle Prügelknabe der Klasse, nicht nur brutal zusammengeschlagen, einer aus dem Gefolge des »Chief«, des Anführers seiner Peiniger, wird noch auf ihn urinieren.

Aber auch das ist längst nicht genug. Und so schlagen der Chief und sein Mob den souffre-douleur schließlich mitten auf dem Schulhof ans Kreuz und schießen auf ihn. Die anderen Schüler und die Lehrer stehen dabei, mit verbundenen Augen. Einige von ihnen filmen das Ganze mit ihren Telefonen. Als endlich die Polizei kommt, ist auch sie blind für die wahren Zusammenhänge. Statt auf den Chief schießen die beiden Polizisten mit ihren Taser-Pistolen auf den Gekreuzigten.

Xavier Dolans Videoclip für den Song »College Boy« der französischen Band Indochine polarisiert. Schon wenige Tage nach seiner Veröffentlichung im Mai 2013 erschien in Frankreich eine bearbeitete Version. Natürlich ist dieser gerade einmal sechs Minuten lange Clip nur ein Nebenwerk im Schaffen des 25-jährigen frankokanadischen Filmemachers und Schauspielers. Aber manchmal sind es gerade solche scheinbaren Petitessen, die den Blick für die zentralen Werke eines Künstlers schärfen. Zudem verraten die teilweise äußerst heftigen Reaktionen auf dieses Musikvideo viel über das Bild, das sich seine Bewunderer von Xavier Dolan und seinen Filmen machen.

Kaum ein Filmemacher ist in den vergangenen Jahren so gefeiert worden wie Dolan. Das begann schon 2009 bei der Cannes-Premiere seines Debütfilms I Killed My Mother. Seither ist der damals 20-Jährige, der die semi-autobiografische Geschichte einer tragikomischen Mutter-Sohn-Beziehung mit 17 geschrieben und zwei Jahre später verfilmt hat, die große Hoffnung eines insgesamt eher dahinsiechenden, oft formelhaften Autorenkinos. Dieses wilde, von einer unbändigen Energie erfüllte (Selbst-)Porträt eines egozentrischen Teenagers traf vor gut fünf Jahren einen Nerv. Dolans extreme Selbstsicherheit – er war nicht nur Autor und Regisseur seines Erstlings, sondern auch noch Produzent, Kostümbildner und Hauptdarsteller – und seine jugendliche Schönheit mussten ihn einfach zu einem Star machen.

Fünf Jahre und vier Filme später hat sich daran kaum etwas geändert. Die Bewunderung für Dolan ist höchstens noch größer geworden. Schließlich hat er mit Herzensbrecher, dieser ironischen Filmballade über eine Ménage-à-trois in Gedanken, wie mit dem bacchantischen filmischen Bildungsroman Laurence Anyways und dem unnachgiebig verdichteten Thriller Sag nicht, wer du bist! seinen Weg konsequent weiterverfolgt. Insofern ist der Jurypreis, der ihm in diesem Jahr in Cannes für seinen fünften Film Mommy verliehen wurde, auch ein vorläufiger Höhepunkt der recht einzigartigen Liebesgeschichte zwischen Dolan und seinem Publikum. Dass er sich den Preis mit Jean-Luc Godard – für seine neueste Arbeit Adieu au langage – teilte, war eine Ex-aequo-Entscheidung von hohem symbolischem Wert.

Seit seinem ersten großen Erfolg mit I Killed My Mother gibt es nicht mehr nur den Künstler Xavier Dolan, der es grandios versteht, sich selbst als Schauspieler wie als Regisseur in Szene zu setzen. Es gibt zudem die Kunstfigur »Xavier Dolan«, die vor allem eine Projektionsfläche der Kritiker und Cinephilen ist. Natürlich hat der 1989 in Québec geborene Filmemacher diesen imaginären Doppelgänger mit seinen Auftritten auf Filmfestivals wie in eigenen Filmen und denen anderer Regisseure selbst erschaffen. Er ist sein größtes künstlerisches Projekt, an dem er bis heute weiterarbeitet.

Doch anders als bei seinen Filmen hat Dolan über dieses Projekt nicht die volle Kontrolle. Es hat sich von Anfang an verselbstständigt und nährt sich seither aus den Sehnsüchten und den Projektionen seines Publikums. Zunächst war er das Wunderkind, das jugendliche Genie, das allem Anschein nach die Geschichte des Kinos in sich aufgesogen hat und seine Sprache instinktiv beherrscht. Mittlerweile ist er der unumstrittene Erbe der Nouvelle Vague und des Autorenkinos der 1960er Jahre. Eben der 25-Jährige, der sich den Jurypreis in Cannes mit der fast 60 Jahre älteren Kinolegende teilt.

Der »College Boy«-Videoclip ist purer Dolan. Davon zeugt nicht nur das extrem klare und kontrastreiche Schwarz-Weiß der Bilder, das einen Bogen zu den Filmen Carl Theodor Dreyers, vor allem zur Johanna von Orléans, schlägt. Auch die vielen Zeitlupenaufnahmen, die Entscheidung für ein beinahe quadratisches Bildformat, das an Hochkantfotos erinnert und damit zugleich auf die Handy­videos der Kreuzigungszuschauer verweist, sowie die vielen Nah- und Detailaufnahmen, aus denen ein komplexes Netz von Emotionen entsteht, sind typisch für Dolans Stil. Nur erzeugt diese Überwältigungsästhetik, die prinzipiell auch seine fünf Spielfilme prägt, hier ganz andere Reaktionen. Das Musikvideo verweigert sich dem Projekt »Dolan«.

So kunstvoll jede Einstellung des Clips auch sein mag, es ist unmöglich, sie zu genießen. Sie beschwören anders als die durch und durch ästhetisierten Einstellungen in Dolans Spielfilmen nicht die Magie des Kinos. Sie wollen nicht verzaubern und betören. Sie gleichen eher Schlägen, die wild auf den Betrachter einprasseln. Mit jedem Bild schreit Dolan seinen Schmerz und seine Wut angesichts einer teilnahmslosen, feigen und voyeuristischen Mehrheit heraus, die den Außenseiter zum Märtyrer werden lässt. So offenbart sich der geniale Narzisst plötzlich als glühender Moralist.

Blickt man von »College Boy« aus auf Dolans Filme, verschieben sich die Gewichte. Mit einem Mal offenbaren sich ganz andere Linien und Zusammenhänge. I Killed My Mother ist dann nicht mehr nur die Geschichte eines arroganten Teenagers namens Hubert Minel, der gegen die in seinen Augen spießige Mutter rebelliert. Der Film erweist sich zugleich als erster Aufschrei gegen eine normierte Gesellschaft, die abweichendes Verhalten nicht tolerieren kann. Auch Hubert wird aufgrund seiner Homosexualität Opfer eines gewalttätigen Mitschülers.

Gewalt, die von Hass auf jeden, der anders ist, der nicht ins normative Bild passt, erfüllt ist, schwingt in nahezu allen Filmen Dolans mit. In Laurence Anyways wird die transsexuelle Laurence immer wieder mit ihr konfrontiert. Das können ganz direkte Angriffe sein oder eher verdecktes Mobbing. Ein Mann, der als Frau leben will, muss sich gegen Blicke ebenso wie gegen Schläge stählen. Davon erzählt die überwältigende Montage zu Beginn des Films, in der die Kamera Laurence folgt, wie sie durch die Straßen von Montréal geht und dabei nur die Reaktionen der anderen Menschen einfängt. Laurence gelingt, wovon letztlich alle Protagonisten in Dolans Filmen träumen: Sie erfindet sich tatsächlich selbst noch einmal neu und findet so den Frieden, den sie während ihrer zehnjährigen Odyssee vor allem bei ihrer Geliebten Fred gesucht hatte.

Aber die Liebe allein ist in dieser von materiellen Zwängen, irrationalen Ängsten und engstirnigem Hass erfüllten Welt nie genug. Davon zeugen alle fünf Filme auf ihre Weise. In Mommy versucht die verwitwete Diane Després, ihrem hyperaktiven, zu Gewaltausbrüchen neigenden Sohn Steve den Halt zu geben, den er so dringend braucht. Sie will ihn auf keinen Fall dem System überlassen. Und eine Zeit lang scheint es ihr tatsächlich zu gelingen. Zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Nachbarin Kyla, einer unter einem traumatisch bedingten starken Sprachfehler leidenden Lehrerin, erobert sie ihrer kleinen Familie einen bemerkenswerten Freiraum.

Doch das Glück, das Dolan schließlich in einer wahrhaft traumhaften, von Oasis’ »Wonderwall« begleiteten Sequenz als subversiven Gegenentwurf zur gesellschaftlichen Wirklichkeit feiert, kann nicht von Dauer sein. Als Steve, der wie schon der souffre-douleur in »College Boy« von Antoine-Olivier Pilon gespielt wird, in einer Karaokebar Andrea Bocellis »Vivo per lei« singt, zerbricht alles wieder. Die Ablehnung, auf die er stößt, beantwortet er mit Gewalt. Bevor die anderen ihn physisch angreifen, schlägt er selbst zu. Auch das ist ein Mechanismus des Mobbings. Anders als der »Prügelknabe« will Steve nicht das Opfer sein. Also wird er wie der immer wieder explodierende Francis in Sag nicht, wer du bist! selbst zum Täter. Die Gewalt als zerstörerischer Ausweg aus der Außenseiterrolle. Nur siegt am Ende eben doch die schweigende, den Anderen konsequent ausschließende und unterdrückende Mehrheit.

Eigentlich ist es noch viel zu früh, um Xavier Dolan wirklich zu fassen und ihn auf eine weitere Projektion zu reduzieren. Nur hat er genau diese Art von Reaktion seit 2009 immer wieder he­rausgefordert. Die Schubladen, in die er von seinen Bewunderern wie auch von seinen Kritikern gesteckt wurde, hat er schließlich bewusst selbst geöffnet. Wer sich so ungebremst seinem jugendlichen Stürmen und Drängen hingibt wie der Regisseur von I Killed My Mother und Herzensbrecher, weiß um die Reaktionen, die er provoziert.

Mittlerweile offenbart sich natürlich ein anderes, ein vielfältigeres und differenzierteres Bild. Mit Laurence Anyways, der stilistisch noch ähnlich überladen ist wie Herzensbrecher, zog das Politische ganz offen in Dolans Kosmos ein. Mit dem formal so konzentrierten Sag nicht, wer du bist! und dem zwar wieder deutlich verspielteren, aber doch ähnlich kontrollierten Melodram Mommy scheint er die wildesten Exzesse hinter sich gelassen zu haben. Aber das ist letztlich auch wieder eine Projektion des Betrachters. Dolans Werk widersetzt sich dieser simplen Beschreibung, die eine Entwicklungslinie konstruiert.

In Wahrheit ist nichts in Dolans Schaffen wirklich linear. Man sollte es sich eher rhizomatisch vorstellen, als ein wucherndes Netzwerk, das sich immer weiter verzweigt und dabei immer mehr Schlingen bildet. Alles gehört zusammen, ist Teil eines Ganzen, das in alle Richtungen wachsen kann. So ist Mommy auch eine Spiegelung von I Killed My Mother. Und erst in diesem Spiegel offenbart sich das ganze Ausmaß der Sympathie, die Dolan trotz des äußeren Anscheins für Huberts Mutter empfindet. Und diese Sympathie, die er – das wird von Film zu Film deutlich – all seinen Protagonisten entgegenbringt, hat etwas Revolutionäres. Als Liebende sind sie zu schwach, um die zu retten, die sie lieben. Aber in ihrem Scheitern, das einen traurig oder auch wütend macht, liegt ein Ansporn, die Welt zu verändern. Denn sie alle hätten es verdient, so wie Laurence über die Gesellschaft zu triumphieren.

Mommy startet am 13. November

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