Kritik zu Sag nicht, wer du bist

© Koolfilm

In seinem vierten Spielfilm begibt sich das 25-jährige kanadische Regiewunderkind Xavier Dolan aufs Land. Er selbst verkörpert den Großstädter Tom, der nach dem Tod seines Liebhabers dessen Mutter und Bruder auf deren Hof besucht – und dann doch verleugnen muss, wer er ist

Bewertung: 4
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3.7 (Stimmen: 3)

Eine Begegnung in einem dunklen Tal, ein Ringen in tiefster Nacht. In einer alten jüdischen Erzählung heißt es, dass Jakob einmal auf seinem Weg einem Fremden begegnet ist und eine ganze Nacht lang mit ihm gerungen hat. Ein einseitiger Kampf, den Jakob nicht gewinnen kann. Der Fremde, ein Engel oder gar Gott, ist viel mächtiger und stärker, aber der Kampf hört einfach nicht auf. Er dauert an, weiter und weiter, zumindest eine Nacht lang, vielleicht aber auch eine ganze Ewigkeit. Diese kleine, fast schon kafkaeske Episode hat den französischen Maler Eugène Delacroix zu einem seiner berühmtesten Werke inspiriert, dem Fresko »Jakobs Kampf mit dem Engel«. In seiner Darstellung gleichen die beiden Ringenden einem Tango tanzenden Paar. Der Engel führt, und Jakob hält mit all seiner Macht dagegen. Erinnerungen an dieses von warmen Erd- und Brauntönen dominierte Bild drängen sich in einem der zentralen Momente von Xavier Dolans Sag nicht, wer du bist buchstäblich auf. Sie überwältigen und beherrschen einen wie der Engel Jakob.

Gerade eben hatte Francis (Pierre-Yves Cardinal) noch von dem Tanzkurs erzählt, den er vor Jahren zusammen mit seinem kürzlich verstorbenen jüngeren Bruder besucht hat. Nun nimmt er dessen Partner Tom (Xavier Dolan) mit in eine große, fast leere Scheune und legt Musik auf – einen Tango. Tom muss mit ihm tanzen. Eine Weigerung würde Francis nie und nimmer hinnehmen. Also gleiten die beiden gemeinsam durch den dunklen Raum. Francis führt, und Tom ergibt sich ihm. Aber in jedem seiner Schritte liegt auch etwas Widerständiges. Der zur Trauerfeier seines Geliebten aufs Land gekommene Großstädter gibt nicht einfach auf. Wie Jakob führt er einen nicht enden wollenden Kampf mit dem Stärkeren.

Und wie einst Delacroix taucht auch Dolan diesen Tanz zweier auf ewig Ringender in dunkle Brauntöne, die von einem fast schon goldenen Licht illuminiert werden. Tom und Francis, das ist eine dieser existenziellen Paarungen. Gegensätze, die zugleich auch Spiegelbilder sind, treffen aufeinander. Ein Zusammenprall, der ganze Welten erschüttern kann. Eine Interpretation der alten Erzählung besagt, dass Jakob sich in dieser Nacht im finsteren Tal selbst begegnet, dass er mit seinem zweiten, am Tag verborgenen und verdrängten Ich ringt.

In Dolans Verfilmung von Michel Marc Bouchards Theaterstück »Tom à la ferme« gleicht der Tango einer Pause in dem Kampf zweier Männer, die sich selbst im jeweils anderen erkennen, und ist zugleich seine Fortsetzung mit anderen Mitteln. Dabei ringt jeder von ihnen vor allem mit seinem eigenen Begehren. Das war schon immer das große Thema des gerade einmal 25-jährigen Filmemachers und Schauspielers. Die Sehnsucht nach einem Leben in absoluter Freiheit und die Furcht davor, das kalte Brennen der Leidenschaften und die lodernde Angst vor ihnen, der Exzess und die Lügen. Dolans Protagonisten sind Zerrissene, innerlich Gehetzte, die von einem Extrem zum nächsten treiben. Genauso waren dann auch seine ersten drei Filme, I Killed My Mother, Herzensbrecher und Laurence Anyways: Über alle Maßen unbändig, berauscht von der eigenen Wildheit rannten sie gegen jede nur erdenkliche Grenze und Konvention an. Das konnte durchaus berauschend wirken, hatte aber auch etwas Ermüdendes.

Für Sag nicht, wer du bist! hat Dolan den entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Während er zuvor immer kurz davor war, sich im Uferlosen zu verlieren, fließt die Erzählung hier in einem perfekt begradigten Bett. Alles ist unter Kontrolle und folgt den Mechanismen des Thrillers. Schon zu Beginn, als Tom in seinem leicht ramponierten schwarzen Volvo durch die öde Weite der Provinz Quebec fährt, liegt unterschwellig etwas Bedrohliches in den Bildern. Die Leere der Landschaft und die scheinbare Endlosigkeit der Maisfelder sind trügerisch. Sie geben den Blicken keinen Halt und verdecken zudem noch die Sicht auf die Enge des Lebens auf den Farmen und in den kleinen Dörfern.

Eigentlich wollte Tom, den Xavier Dolan diesmal mit blondierten Haaren selbst spielt, nur kurz Agathe (Lise Roy), die Mutter seines toten Freundes, besuchen und eine kleine Rede auf dessen Trauerfeier halten. Doch so einfach ist das in dieser abgeschiedenen Welt nicht, die ihre eigenen Regeln und Gesetze hat. Von Anfang an steht fest, dass Agathe nichts von der Beziehung wissen will, die ihn und ihren Sohn verband. Für sie waren die beiden nur Arbeitskollegen und Freunde. Also bleibt ihm nichts, als sich zu verstellen.

Die Lüge wird zur Wahrheit. Und genau das ist es auch, was der zu Ausbrüchen von Gewalt und Zärtlichkeit neigende Francis  von Tom erwartet. Er soll Agathe etwas vorspielen und ihr von der Freundin seines Bruders erzählen. Das ganze Leben auf der Farm ist eine einzige Scharade. Jeder macht den anderen etwas vor und weiß letztlich nicht einmal mehr, was er selbst wirklich will. Nach der Trauerfeier startet Tom einen Ausbruchsversuch. Statt Francis und Agathe zu folgen, nimmt er den Weg, den er gekommen ist. Aber die Farm und Francis, der ihn mal bedrängt und mal umwirbt, lassen ihn einfach nicht los. Also macht er nach ein paar Kilometern in Richtung Normalität wieder kehrt und liefert sich Francis und seinen Schlägen aus. Wie schon der düstere Romantiker Delacroix hat auch Dolan für sein explosives Gemisch widerstrebender Emotionen eine berückende Form gefunden. Die Klarheit und Strenge des Genres schafft Dolan noch einmal ganz andere Freiräume. Immer wieder wechselt er dabei scheinbar ganz konventionell zwischen Totalen, die seine Protagonisten in all ihrer Verlorenheit zeigen, auf der einen und extrem engen, beinahe klaustrophobischen Nahaufnahmen auf der anderen Seite hin und her. Auch seine ansonsten eher schrille Farbpalette hat Dolan für diese Reise ins Herz der Trauer deutlich reduziert. Braun-, Grün- und Grautöne bestimmen die Bilder und vermitteln ein Gefühl von Schwere. Das Leben liegt als Last auf Tom, Francis und Agathe. Wo es keine Wahrheit gibt, gibt es auch keine Freiheit.

Zwei Seelen wohnen in Toms und Francis’ Brust. Diese seltsam widerständige und damit so ungeheuer provokante Sanftheit des einen findet ihre Entsprechung in der wieder und wieder auflodernden Brutalität des anderen. Doch letztlich lassen sich Opfer und Täter auf der abgelegenen Farm kaum trennen. Xavier Dolans Tom sucht den Schmerz und die Schläge, als wollte er so etwas anderes, eine viel tiefer sitzende Trauer und Verzweiflung, überdecken. Und Francis wirkt während seiner Übergriffe und Attacken gegen Tom verletzlicher als sein Opfer. Mit jedem Schlag erstickt er etwas in sich, das er trotz allem nie ganz auslöschen wird. Kampf und Tanz, wie nah sie einander doch sind. Jakob und der Engel werden für immer unter uns weilen, in Delacroix’ Fresko und noch einmal verwandelt in Sag nicht, wer du bist. Das Leben – eine Erzählung von Kafka oder ein Film von Hitchcock, aber das ist in Dolans Wahrnehmung der Menschen und der Welt sowieso nahezu eins.

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