Nahaufnahme von André Hennicke

Der mit dem ­markanten Gesicht
André Hennicke mit Marie Bäumer in »Der alte Affe Angst« (2003)

André Hennicke mit Marie Bäumer in »Der alte Affe Angst« (2003)

André Hennicke ist einer der meistbeschäftigsten Schauspieler des deutschen Films. Vor allem in den Rollen der Bösewichter hat er nachhaltigen Eindruck hinterlassen, aber spielen kann Hennicke eigentlich alles, vom romantischen Liebhaber bis zum keuschen Mönch 

Wenn er auftaucht, auf der Leinwand oder auf dem Bildschirm, dann regt sich meist das Misstrauen. Könnte nämlich sein, dass mit ihm das personifizierte Böse nunmehr den Handlungsraum betreten hat. Könnte aber auch sein, und zwar genauso gut, dass ein warmherziger Mensch endlich Hilfe bringt. Oder aber es mischt sich ein schwer einschätzbarer Charakter ins Geschehen, der möglicherweise etwas Unvorhergesehenes tut. Wird er für Gefühl oder Härte sorgen? Er kann beides so gut und er geht in beidem ziemlich weit. Also ist es besser, auf der Hut zu sein, bis sich der Staub gelegt hat und die Lage sich einigermaßen einschätzen lässt. Schließlich soll er einen nicht schon wieder hinterrücks von den Füßen holen.

André M. Hennicke hat eines von diesen Gesichtern, die sich einprägen. Ein Gesicht, das man wiedererkennt, wenngleich es eine Weile dauern mag, bis man sich den dazugehörigen Namen merkt. 

Zumindest zu Beginn seiner Karriere im wiedervereinigten Deutschland war das so. Da teilte er das Schicksal so vieler Nebendarsteller, die im Hintergrund für Farbtupfer und Glanzlichter sorgen und an deren Gestalt und Auftreten man sich zwar erinnert, nicht aber an deren Namen. Das hat sich inzwischen geändert. Mittlerweile ist klar, dass sein Name auf der Besetzungsliste eine mindestens reizvolle Figur garantiert. Auf Hennicke kann man sich verlassen, der spielt nichts einfach nur so runter, nicht die Bösen und schon gleich gar nicht die Guten. Und erst recht nicht lässt er sich festlegen auf ein Genre. Hennicke ist ein Charakter-, kein Chargendarsteller und dieses vielfarbige Potenzial, das er mitbringt, strahlt zurück auf die Filme, in denen er spielt. 

Die Mehrdimensionalität seiner Rollengestaltung macht Komödien tiefgründiger, Krimis tragischer, Dramen leichtherziger, Horrorfilme komplexer, Märchen glaubwürdig und Melodramen vollends herzzerreißend.

Geboren wurde André M. Hennicke am 21. September 1958 als Sohn eines Feuerwehrmanns und einer Hutmacherin und jüngster Bruder dreier Schwestern in einem Ort mit dem schönen Namen Steinheidel-Erlabrunn; er wuchs im nahe gelegenen Johanngeorgenstadt im Erzgebirge auf, noch in der DDR. Zwischen Schule und Militärdienst arbeitete er als Heizer, danach als Maurer. Dann ging er fort und studierte von 1980 bis 1984 Schauspiel an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam. Im Anschluss war Hennicke mehrere Jahre am Theater Senftenberg engagiert. »Nebenher« adaptierte er Märchen für die Bühne und schrieb Hörspiele. 1984 trat er als »Bärtiger Student« in der Komödie »Kaskade rückwärts« (Iris Gusner) erstmals vor die Kamera; 1988 sorgte er an der Seite von Corinna Harfouch in »Die Schauspielerin« (Siegfried Kühn) für Aufsehen.

Als die DDR zusammenbricht, gilt André M. Hennicke als vielversprechendes Talent, in der BRD aber kennt ihn keiner und wie so viele seiner ostdeutschen Kollegen muss auch er quasi noch einmal von vorne anfangen und sich dem (West-)Publikum der nunmehrigen Mehrheitsgesellschaft neu vorstellen. Also macht er sich ans Werk: Von der standardisierten Fernsehware über innovatives deutsches Gegenwartskino bis zur internationalen Großproduktion, vom kleinen Fernsehspiel über die Independent-Nischenproduktion zum Mainstreamfilm, egal ob Kurz- oder Langfilm, kleine oder große Rolle – Hennicke spielt mit, und gerne darf es auch der Bösewicht sein. Denn der Bösewicht, so Hennicke einmal in einem Interview, bleibt den Leuten besser im Gedächtnis haften. Jedenfalls, ließe sich ergänzen, wenn er so gespielt wird wie von ihm.

Zum Beispiel der Serienmörder Gabriel Engel in Christian Alvarts Provinz-Thriller »Antikörper« (2005), der im Rollstuhl sitzend Gift und Galle durch die Gitterstäbe speit und ein sadistisches Katz-und-Maus-Spiel mit Wotan Wilke Möhrings verunsichertem Dorfpolizisten spielt. Nicht von ungefähr lassen die Szenen an die gnadenlose Sektion Clarice Starlings durch Hannibal Lecter in »The Silence of the Lambs« (Jonathan Demme, 1991) denken. Und wie Anthony Hopkins in der Lecter-Rolle schafft es auch Hennicke, seiner abgrundbösen Figur vermittels Manierismen einen gemeinen Reiz zu verleihen. Dabei sind es nicht nur die raschen, präzisen Bewegungen des drahtigen Mannes im Rollstuhl oder sein selbstgewiss herausfordernder, stechender Blick, die in ihren Bann ziehen; es ist auch die geschliffene Diktion des ausgebildeten Theaterschauspielers, die fasziniert: die scharfen Kanten, die er den Wortern gibt, bevor er sie zu Satzpfeilen formiert, die er auf sein Opfer/Gegenüber abschießt. 

Über die Sprache eignet sich Hennicke auch den Präsidenten des Volksgerichtshofes an, den berüchtigten Demagogen Roland Freisler, der in »Sophie Scholl – Die letzten Tage« (Marc Rothemund, 2005) Hass und Häme über die Widerständler schüttet, bevor er buchstäblich kurzen Prozess macht. Dabei dienen ihm Satzmelodie und Betonung zugleich als Einschüchterungs- wie Distanzierungsmittel und es gelingt ihm das seltene Kunststück, den »Blutrichter« zur Karikatur eines Nazi-Wüterichs zu verzerren, die einen dennoch ganz konkret das Fürchten lehrt. Es lohnt sich, diese feinziseliert doppelbödige Miniatur mit Bruno Ganz' gänzlich naturalistisch angelegter Hitler-Darbietung in »Der Untergang« (Oliver Hirschbiegel, 2004; Hennicke tritt hier als SS-Brigadeführer Wilhelm Mohnke auf) zu vergleichen.

»Sophie Scholl – Die letzten Tage« (2005). © X-Verleih/Warner Bros.

Kein Zweifel, die Bösen stellen recht eindrückliche Einträge in Hennickes außerordentlich umfangreicher Filmografie dar.  Die (Nichtso-)Guten aber sind es, die einem noch länger nachgehen. Die angreifbaren, aus der Bahn geworfenen Männer, wie er sie zum Beispiel in Christian Petzolds »Toter Mann« (2001), Oskar Roehlers »Der alte Affe Angst« (2003) oder Sebastian Schippers »Mitte Ende August« (2009) spielt. Dann nämlich wird in Hennickes kantigem Schädel mit den hohen Backenknochen, den darunter mitunter eingefallen wirkenden Wangen, den tiefen Furchen um den Mund, denen lebhafte Falten auf der Stirn korrespondieren, dem prägnanten Kinn – dann scheint in dieser Geografie aus Haut und Knochen ein zartes Gesicht von großer Empfindsamkeit auf. Darin die Augen den Kurzschluss zwischen Gedanke und Gefühl, Überlegung und Empfindung herstellen. Es liegt in der Natur der Sache, dass es dann mitunter etwas turbulenter wird; und nie lässt Hennicke seine Figur im Stich oder geht mit ihr nur den halben Weg. Man folgt ihm gern; Aufrichtigkeit mag zwar nicht eben bequem sein und auch nicht immer sonderlich gut aussehen, in ihr steckt aber doch die Wirklichkeit, also das Leben.

Anmerkung: Möglicherweise ist Hennicke Workaholic, vielleicht ist er aber auch einfach nur neugierig; jedenfalls ist er nicht nur unermüdlich vor der Kamera und für Film und Fernsehen im In- und Ausland tätig, sondern auch dahinter als Produzent, Regisseur, Drehbuch- und Romanautor.

»Narziss und Goldmund« (2020). © Sony Pictures

Derzeit ist Hennicke in Stefan Ruzowitzkys Hesse-Verfilmung »Narziss und Goldmund« als Klosterbruder Lothar zu sehen. Dessen schlichte Frömmigkeit wird von der religiösen Vorstellungskraft des Bildhauers Goldmund in einen argen Gewissenskonflikt gestürzt. Vielleicht aber ist es auch die Eifersucht auf die enge Bindung, die dieser zum Abt Narziss unterhält, die Lothar umtreibt? Einmal mehr jedenfalls ist eine Hennicke-Figur nicht leicht zu durchschauen, und einmal mehr hat es einen ganz eigenen Reiz, sie zu beobachten.

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