Englands Gewinn...

 

Im Frühjahr bahnte sich eine Kletterpflanze vorwitzig ihren Weg in das Gartenhäuschen, in dem ich schreibe, Filme schaue und Zigarren rauche. Sie hatte eine winzige Lücke zwischen Dach und Fenster gefunden und stieß nun in den Innenraum vor wie das Tentakel eines freundlichen Ungeheuers.

Der Zweig wucherte unaufhaltsam und nahm bald Platz in einem Gartenstuhl, weshalb ich ihn, schon aus Gründen der Gastfreundschaft, sanft zur Wand zurücklenken musste. Inzwischen hatte sich der unternehmungslustige Trieb verästelt, rankte jetzt hinter meinem Bildschirm und streckte sich fast zur Uhr empor. Ich bin gespannt, wie weit der folgsame Wildwuchs kommen wird, bevor der Herbst beginnt. Diesen unverhofften Besucher hatte ich oft vor Augen, als ich aus der Ferne die diesjährige Locarno-Retrospektive begleitete. Sie war dem britischen Nachkriegskino bis 1960 gewidmet. Francois Truffaut müsste sie reichlich Anlass bieten, sich im Grabe umzudrehen, denn sie entkräftet machtvoll seine steile These, England und Kino seien ein Widerspruch in sich. Kuratiert hat sie Ehsan Koshbakht, dessen Columbia-Retro im letzten Jahr ihn bereits als kenntnisreiches, kühnes Trüffelschwein auswies. Ihr Ertrag, das bestätigen die Kollegen, die vor Ort waren, war auch heuer enorm. Dass dort kreativer Wildwuchs möglich war, fand man bisher schon allein durch das Werk von Powell&Pressburger bestätigt (von ihnen lief der wundersame »I Know where I'm Going«). Koshbakht schürfte noch erheblich weiter. Die Retro entstand in Kooperation mit dem British Film Institute, wird deshalb bestimmt auch im National Film Theatre in London laufen. Ich vermute stark, wie im Fall von Columbia werden sie auch zahlreiche Institutionen im deutschsprachigen Raum (Berlin, Hamburg, Wien, Zürich) nachspielen; wenngleich nicht im gleichen Umfang.

Koshbakts Auswahl von 45 Titeln folgt interessanten Prinzipien, um die Klischees auszumerzen, die sich mit dieser Kinematografie verbinden. Dazu musste er einige Äste kappen, die sie maßgeblich trugen: keine Kriegs- und Kostümfilme (also ohne die stürmischen Melos von Gainsborough!), weiterhin keines der gediegen-subversiven Gesellschaftsdramen des Gespanns Anthony Asquith-Terence Rattigan; keiner der berühmten Horrorfilme von Hammer, dafür Val Guest' rissiger Polizeifilm »Hell is a City«; aus der Komödienschmiede Ealing liefen nur ein, zwei der behaglichen Satiren, dafür aber eine der letzten Produktionen des Studios, der pechschwarze Gangsterfilm »Nowhere to Go« von Seth Holt. An der mächtigen Rank Organinzation führt zwar kein Weg vorbei, aber deren großer Star Dirk Bogarde war lediglich in zwei eher untypischen Rollen zu sehen. Koshbakht gestattete sich ein paar Ausreißer ins Gediegene (etwa der schwarzhumorige »Last Holiday« mit Alec Guiness). Auch einige anerkannte Klassiker gehörten zum Programm, darunter »Odd Man Out« und »The Fallen Idol« von Carol Reed, der Ertrag der Reihe ist also ein zweifacher: der Entdeckung sowie der Bekräftigung. Wenn man Till Karitzke von "critic.de" Glauben schenken darf (was man getrost darf), gab es jede Menge zu Lachen. Michael Ranze vom "filmdienst" erging es ebenso, er hatte auch viel Freude an der trefflichen TV-Satire »Simon and Laura« von Muriel Box. Die Gewerkschaftssatire "I'm all right, Jack" von den Boulting-Brüdern scheint in dieser Hinsicht einigermaßen unverwüstlich zu sein, beim Wiedersehen erging es mir jetzt jedoch wie vor ein paar Jahren: Wenn mir bereits die Musik signalisiert, dass es lustig zugehen soll, bin ich schnell draußen; auch grimassierende Mimen wie Terry-Thomas empfinde ich als eine Nötigung. Für Koshbakhts Idee, mit dem britischen Kino auch eine Mentalitätsgeschichte zu erzählen, ist dies allerdings ein durchaus triftiges Argument. Gleichviel, ich hoffe, dass etliche der entlegeneren Titel, die die Kollegen entdeckten, bald anderswo zu sehen sind.

Bei meiner privaten Sichtung fielen mir zwei, drei Verzweigungen der nationalen Filmproduktion auf. Meinen Kollegen fielen die zahlreichen Dreiecksgeschichten auf, welche die puritanische Moral vor knifflige Herausforderungen stellen. Eine andere Tendenz ird bereits durch den kurzen Auftaktfilm der Retro besiegelt, Humphrey Jennings' zukunftsträchtiges Dokumentarstück »A Diary for Timothy«. Das Kinderwohl ist eine Sorge, die mehrere Regisseure umtreibt. Der epochale »Mandy« von Alexander MacKendrick gehört in diese Reihe ebenso wie »The Fallen Idol«, ein Meisterwerk des zweifachen Blicks: Reed macht sich die Perspektive eines kleinen Jungen zu Eigen, der die Welt der Erwachsenen beobachtet, ohne sie zu verstehen. Auch in den subjektiven Einstellungen aus der Sicht des Jungen ist stets der Blick eines Erwachsenen enthalten, der mehr erahnt als das Kind. Eine wirkliche Perle ist auch der Krimi »Hunted« von Charles Crichton, den man eigentlich als Komödienspezialisten kennt (von Ealing bis »Ein Fisch namens Wanda«). Im Zentrum steht ein Waisenjunge mit pyromanischen Neigungen, der ungemein aufgeweckt reagiert, erwachsene Verhaltensweisen imitiert und das Leben bang ausprobiert. London liegt noch in Trümmern, gleich zu Beginn wird im Schutt eine Leiche entdeckt. Ein harter, aber mit neugierigem Zartgefühl abschweifender Bildungsroman entspinnt sich, der den kleinen Protagonisten mit dem flüchtigen Dirk Bogarde ungemein eng zusammen schmiedet. Crichton hat einen wunderbaren Blick für Größenrelationen. Einmal soll der Junge Geld aus Bogardes Wohnung holen, aber er ist zu klein, um die Türklingel zu erreichen. Derweil entwickelt der Inspektor, der die Flüchtenden verfolgt, psychologischen Spürsinn und fragt sich, wie der Waisenjunge wohl von seinen Pflegeeltern behandelt wurde. Frank Arnold berichtete aus Locarno »The Yellow Balloon« von J.Lee Thompson füge sich exzellent in diesen Korpus. 

Mit »Hunted« wären wir inzwischen bei dem Genre gelandet, das zentral für die Selbstverständigung der britischen Nachkriegsgesellschaft scheint. Der Kriminalfilm erlebt nach dem Krieg eine energievolle Blüte. Einerseits gilt es, Ersatz für Hitchcock zu finden, der längst in den USA dreht. Unter den Suspense-Etüden, die ansonsten farblose Ralph Thomas gedreht hat, ragt »The Clouded Yellow« heraus. Keiun Wunder, dass Drehbuch stammt von Eric Ambler und der versierten Janet Green. Die ziemlich verworrene Intrige (mit dem Hitchcock-Motiv der unschuldig Verfolgten) wird geerdet durch ein originell eingefangenes Zeitkolorit (die kuriose Berufssuche von Trevor Howard) und den geschickten Einsatz von Realschauplätzen. Howard ist auch in »They made me a Fugitive« des kosmopolitischen Avantgardisten Alberto Cavalcanti auf der Flucht vor dem Arm des Gesetzes. Als Kriegsveteran ("What is his specialty?" - "He has class.") gerät er in die Fänge einer pittoresken Schmugglerbande, die ihre kriminellen Aktivitäten hinter der Fassade eines Bestattungsunternehmens tarnt. Noel Langleys Drehbuch verwurzelt die Intrige in lebhaft skizzierten Milieus (insbesondere die Welt der Music Hall), um dann bizarre Volten zu schlagen (man denke etwa an die mordlustige Gattin, bei der Howard kurz Unterschlupf findet) und die Konstellationen aus den Angeln zu schleudern (ein smarter Inspektor nutzt ihn als Köder, um dem "cheap after-the-war-trash" das Handwerk zu legen). Das Klima der Desillusionierung fängt Otto Hellers Kamera in mitunter expressionistisch anmutenden Kompositionen ein. In »The made me a Fugitive« herrscht ein Studio-Realismus, der mit dem US-amerikanischen Film Noir eng verwandt ist. Welche eigenen, vitalen Noir-Traditionen das britische Kino etabliert, schildere ich Ihnen in den nächsten Tagen.

 

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