Interview: François Ozon über seinen Film »Wenn der Herbst naht«
François Ozon am Set von »Wenn der Herbst naht« (2024). © Foz / France 2 Cinéma / Playtime
Monsieur Ozon, im Interview, das im Presseheft des Verleihs abgedruckt ist, las ich, dass dieser Film von Albert Simenon beeinflusst wurde. Ich habe mich gefragt, ob Sie den Drehbuchautor Albert Simonin meinten oder aber den Schriftsteller Georges Simenon, den Erfinder von Kommissar Maigret?
Ich meinte Georges Simenon.
Gab es einen speziellen seiner zahlreichen Romane, der Sie hier beeinflusst hat? Vielleicht einen, der in dieser Region spielt?
Nein – was mich mehr interessierte, war die Atmosphäre, die Simenon in seinen Büchern evoziert. Die spielen ja oft in Provinzstädten, die ganz idyllisch und heil erscheinen, wo aber doch das, was hinter den zugezogenen Gardinen passiert, ganz monströs ist. Claude Chabrol hat das ja öfter adaptiert – dieser Tonfall war mir wichtig.
Haben Sie eine persönliche Beziehung zu der Region, in der dieser Film spielt?
Ja, ich kenne die Bourgogne sehr gut, ich habe dort sehr viel Zeit verbracht, vor allem als Kind häufig meine Ferien. Ich mag diese hügelige Landschaft mit ihren vielen Flüssen, das hat auch viel mit dem Mittelalter zu tun, dessen Spuren man dort finden kann. Heute ist es so, dass ganze Teile der Bourgogne nach der Entindustrialisierung verlassen sind, die jüngeren Leute sind weggegangen, es leben nur noch ältere dort in den ärmeren Teilen, wo wir gedreht haben – es gibt natürlich auch noch die reichen Teile, dort, wo der Wein ist.
Ein bekannter Drehbuchautor hat einmal gesagt, er schreibe einen Film immer von seinem Ende her, denn das sei das Schwierigste, der Rest ginge ihm dann leicht von der Hand. Bei diesem Film habe ich mich gefragt, ob Sie auch andere Enden durchgespielt haben? Ein Teil der Spannung für den Zuschauer erwächst ja daraus, dass es da verschiedenste Möglichkeiten gibt ...
Tatsächlich gab es zuerst ein anderes Ende. Das spielte in einem Altersheim, wo die alte Dame mit dem Gespenst ihrer toten Tochter lebt und der kleine Enkel zu Besuch kommt, das war ein sehr viel traurigeres Ende. Aber dann habe ich mir gesagt, nein, der Film muss damit enden, womit er angefangen hat – mit der Natur. Man könnte fast sagen, dass die Pilzsammlerin zum Schluss selber zum Pilz, zur Natur wird, damit schließt sich sozusagen dieser Kreis. Das Leben ist ein Kreislauf.
Als wir vor einigen Jahren über Ihren Film »Frantz« sprachen, ging es auch um den Suspense in dem Film. Ich äußerte die Befürchtung, dass die Zuschauer, die den ursprünglichen Titel des Films von Ernst Lubitsch kannten, der ja auf derselben Vorlage beruhte, diese Spannung nicht verspüren würden, weil der Titel verriet, was passiert war. In »Wenn der Herbst naht« haben Sie den Suspense noch viel stärker mit dem Alltagsgeschehen verwoben. Sehen Sie sich im Hinblick auf dieses erzählerische Mittel an irgendwelche Regeln gebunden oder fühlen Sie sich da ganz frei?
Für mich ist Suspense eindeutig eine Frage der Regie. Hitchcock hat das einmal so erklärt: Wenn zwei Leute an einem Tisch sitzen und reden, der Zuschauer aber weiß, dass unter diesem Tisch eine Bombe liegt, dann ist das das Spannungselement, das den Zuschauer zum Komplizen macht. Bei diesem Film war es so, dass ich den Zuschauer einfach miteinbeziehen wollte. Ich wollte ihm nicht alles zeigen, ihm nicht alles erklären. Der Film funktioniert gewissermaßen wie ein Puzzle und es ist an dir als Zuschauer zu interpretieren, wie diese Geschichte ausgeht. Das war mir sehr wichtig. Ich denke beim Schreiben immer auch an den Zuschauer.
Mit »Gelobt sei Gott« haben Sie 2018 einen Film gedreht, der sich kritisch mit dem Missbrauch in der Kirche auseinandersetzte. Ihr neuer Film kam mir in gewisser Weise wie eine Replik vor, er beginnt in einer Kirche, wo der Zuschauer mit seinen Klischeevorstellungen vom rückständigen Landleben vermutlich erwartet, dass der Priester eine ziemlich konservative Moral predigen wird – was aber ja ganz und gar nicht der Fall ist. Die Kirche spielt auch in einer späteren Szene eine höchst positive Rolle.
Die Kirche hat nun einmal verschiedenste Facetten. In »Gelobt sei Gott« wird gezeigt, wie sie systematisch Kriminelle hervorbringt und schützt, hier handelt es sich um eine kleine Provinzkirche, es gibt einen schwarzen Priester, das ist übrigens etwas, was man in vielen kleinen Städten findet: Es gibt immer weniger Leute, die Priester werden wollen, aber es gibt Migranten, die in die kleineren Städte gehen. Hier geht es um eine liebende Auslegung von Gott, auch um einen Gott, der verzeihen kann. Bei »Gelobt sei Gott« ging es darum, dass eigentlich die Worte Gottes missbraucht worden sind von Priestern, die ihre Macht ausnutzen, um Kinder zu vergewaltigen.
Genau in der Mitte des Films wird enthüllt, woher das Zerwürfnis zwischen Mutter und Tochter herrührt, nämlich durch die frühere Tätigkeit der Mutter als Prostituierte. War das von Ihnen auch ein Stück weit als Provokation gedacht: dass der Zuschauer mit seinen eigenen Vorurteilen konfrontiert wird?
Für mich selber war das kein Problem. Oft haben die Frauen häufig auch keine Wahl, sie sind Opfer der Verhältnisse, das sagt hier die Großmutter einmal zu ihrem Enkel: Sie musste ihre Tochter ja irgendwie durchbringen und wollte ihr ein schönes Leben ermöglichen. Wenn ein Zuschauer moralisch so urteilt, dass er eine Person nicht mehr mögen kann, weil er gerade erfahren hat, dass sie früher als Prostituierte gearbeitet hat, dann sagt das viel über den Zuschauer aus. Für mich war das nicht als Provokation gemeint, für mich bleibt die Figur so sympathisch wie sie vorher war. Das Einzige ist: sie wird komplexer. Nein, eine Provokation war das wirklich nicht.
Mit Hélène Vincent und Josiane Balasko haben Sie zwei großartige Darstellerinnen für die Rollen der beiden alten Freundinnen gefunden. War es aufgrund des Alters dieser Figuren schwieriger, diesen Film zu finanzieren? Haben Produzenten gesagt, Protagonistinnen in diesem Alter will niemand auf der Leinwand sehen? Oder ist das in einem Land wie Frankreich mit seiner Filmkultur kein Problem? Ich hatte den Eindruck, es gibt in Frankreich in den letzten Jahren mehr Filme mit älteren Frauen in tragenden Rollen.
Ich hatte insofern Glück, als mein vorangegangener Film »Mein fabelhaftes Verbrechen« ein großer Erfolg in Frankreich war. Das hilft natürlich immer. Dazu kommt, dass »Wenn der Herbst naht« sehr kostengünstig war: Er spielt in nur einer Region, er hat wenige Figuren und wenig Drehorte; es sind keine Stars, sondern bekannte Schauspielerinnen, die mitspielen. Worauf die Produzenten auch gut reagiert haben, war das Krimi-, das Thrillerelement des Films. Und natürlich hat man sich auch an »Unter dem Sand« erinnert, den ich vor zwanzig Jahren gedreht habe. Darin ging es um eine ältere Frau, die ihren Mann vermisst. Charlotte Rampling, die Hauptdarstellerin, war damals gerade 50 – und gleich hieß es: »Oh, das ist ein Film über eine Alte ...« In dieser Hinsicht haben sich die Zeiten ja ziemlich verändert – im Großen und Ganzen hat man mir da aber auch als Regisseur vertraut.
Wenn das nicht der Grund war (was ich vermutet hatte), was gab dann den Ausschlag dafür, dass Sie diesen Film selber produziert haben? Bedeutete das auch, dass Sie mehr in die Finanzierung involviert waren?
Das habe ich auch gemacht, weil ich fand, dass sich dieser Film relativ einfach produzieren ließ. Ich wollte ihn auch ein wenig in der Familie drehen, mit Leuten, mit denen ich gerne arbeite – dafür brauchte ich einfach keinen auswärtigen Produzenten, der im Übrigen auch viel Geld gekostet hätte. So konnte ich sicherstellen, dass das Geld im Projekt bleibt.
Nach dem ersten Sehen des Films war mein Eindruck, dass die von Ludivine Sagnier gespielte Tochter ziemlich negativ herüberkommt: Habe ich dabei gegenläufige Momente übersehen oder aber war das von Ihnen durchaus beabsichtigt?
Sie ist in der Tat nicht sehr sympathisch. Aber wir erfahren dann im Verlauf des Films ja auch den Grund dafür: Sie kann ihrer Mutter nicht verzeihen. Darunter leidet sie auch. Aber das ist auch das, wo sie irgendwie nicht erwachsen geworden ist. Erwachsenwerden hat meiner Meinung nach auch damit zu tun, seinen Eltern zu verzeihen. Wir haben alle irgendwelche Vorwürfe an unsere Mütter – aber irgendwann musst du anfangen zu verzeihen und ein Freund deiner Eltern zu werden. Und das kann diese Figur eben nicht.
Eine letzte Frage, weil Sie doch oft einen Film konträr zum vorangegangenen drehen: Können wir als Nächstes wieder eine schrille Farce erwarten wie »Mein fabelhaftes Verbrechen« oder aber etwas ganz anderes?
Nein, diesmal nicht. Ich habe mich entschlossen, ein Buch zu adaptieren, das in Frankreich sehr bekannt ist, »Der Fremde« von Albert Camus – 58 Jahre, nachdem Luchino Visconti es verfilmt hat. Das ist eine große Herausforderung, der ich mich aber gerne gestellt habe. Übrigens schon wieder eine Geschichte von Mord und Schuld!
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