Kritik zu Elle

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Zehn Jahre nach »Black Book« meldet sich Paul Verhoeven mit einem neuen Kinofilm zurück: Isabelle Huppert spielt die Hauptrolle in einem Thriller, der zur Gesellschaftssatire wird und nicht nur die Grenzen zwischen den Genres, sondern auch die zwischen Opfer und Täter verschwimmen lässt

Bewertung: 5
Leserbewertung
5
5 (Stimmen: 1)

Für einen Moment bleibt die Leinwand schwarz. Nur ein lautes Stöhnen ist zu hören. Schmerz oder Ekstase, das bleibt im Dunkeln. Erst die Bilder geben eine Antwort. Michelle, die nach einem langen Tag im Büro endlich in ihrer schicken Vorstadtvilla angekommen ist, wird im Wohnzimmer von einem ganz in Schwarz gekleideten Angreifer brutal überwältigt. Er schlägt sie nieder, reißt ihr den Slip herunter und vergewaltigt sie.

Die Schläge und Michelles vergebliche Versuche, sich zu befreien, Gläser und Tassen, die vom Tisch zu Boden fallen, eine schwarze Katze, die alles beobachtet, das Blut auf Michelles Schenkel und zerbrochenes Porzellan – der Angriff zerfällt in Bruchstücke. Eine ungeheure Aggressivität liegt in der fragmentierten Folge der Bilder. Im Augenblick der Vergewaltigung wird alles auseinandergerissen, die Kleidung und der Körper, die Wahrnehmung und schließlich auch der Film.

Eine fast schon physische Härte geht von dieser Szene aus. Die Inszenierung wird selbst zu einem Akt der Gewalt. Die Schnitte gleichen gezielt gesetzten Schlägen. Manche zielen direkt aufs Auge, andere auf die Magengrube. Aber das war schließlich schon immer ein Merkmal von Paul Verhoevens Filmen. Sie spielen mit bestens vertrauten Genrekonventionen ebenso wie mit der Schau-Lust des Betrachters, um sie dann gegen ihn zu wenden. Man bekommt immer mehr zu sehen, als einem letzten Endes lieb ist. Das alleine hat schon etwas Verstörendes. Noch viel irritierender ist aber, was dann geschieht.

Die von Isabelle Huppert gespielte Verlegerin Michelle, deren Firma sich auf die Entwicklung von Computerspielen konzentriert, versucht nicht, das Geschehene auf konventionelle Weise zu bewältigen. Sie scheint es vielmehr einfach auszublenden. Zunächst entsorgt sie die beschädigten und beschmutzten Kleidungsstücke. Dann sitzt sie in einem Schaumbad, als wollte sie nach einem ganz gewöhnlichen Tag ein wenig entspannen. Nur die Blutstropfen im Wasser erinnern noch an den Akt der Gewalt.

Aber nicht nur Michelle, die sich auch später immer wieder als vollkommen unberechenbar erweisen wird, geht zur Tagesordnung über. Auch Verhoeven scheint diese Eruption der Gewalt einfach zu ignorieren. Der Thriller, der sich zu Beginn ankündigt, findet einfach nicht statt. An seine Stelle tritt ein satirisches Sittenbild einer ihrem Untergang entgegentreibenden bürgerlichen Gesellschaft. Nie war Verhoeven Luis Buñuel näher. Allerdings hat seine Bourgeoisie keinerlei Charme mehr, und der Würgeengel kommt aus ihren eigenen Reihen. Michelle verleugnet nicht nur längere Zeit, was ihr geschehen ist. Sie beutet die Gewalt, die sie erlebt hat, aus. In dem neuen Videospiel, an dem ihre Firma gerade arbeitet, vergewaltigt ein Tentakelmonster eine absurd proportionierte Amazone. Als sie erste Entwürfe dieser Szene sieht, fordert Michelle, dass die Frau lustvoller stöhnen und blicken soll.

Nach und nach enthüllt der Film die Hintergrundgeschichte Michelles: Als Zehnjährige hat sie miterlebt, wie ihr Vater bei einem Amoklauf mehrere Familien aus der Nachbarschaft abschlachtete. Statt an das Kindheitstrauma gebunden aber scheint Michelle von allen Fesseln der Konvention befreit. Und diese Freiheit kostet Isabelle Huppert bis zum Letzten aus. Mal ist sie kalt und zynisch, dann wieder mädchenhaft und fast schon unschuldig. Man weiß nie, was sie im nächsten Moment machen wird, und ahnt, dass sie es auch nicht weiß. Aber das ist nur die eine, die orgiastische Seite dieser berauschenden Performance. Die andere, die in Augenblicken der Ruhe und des Stillstands durchscheint, erzählt noch eine andere Geschichte.

Paul Verhoeven war immer ein Meister des Doppeldeutigen. Aber mit »Elle«, seiner triumphalen Rückkehr nach zehn Jahren Kinoabstinenz, geht er noch einen Schritt weiter. Jede Szene, jedes noch so kleine Detail des Films lässt sich auf verschiedene Arten lesen, und nichts liefert einen endgültigen Schlüssel zu dem Film.

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