Berlinale Encounters: Mit Kopftuch und ohne

»Mutzenbacher« (2022)

»Mutzenbacher« (2022)

Die Sektion Encounters sucht als zweiter Wettbewerb immer noch ihr wahres Profil – jenseits davon, ein Überlaufbecken zu sein für die Filme, die im ersten nicht mehr unterkamen, oder lediglich dem besonders sperrigen Arthouse-Kino ein Schaufenster zu bieten

Man muss von Social Media gar nicht viel verstehen, um den Ausgangspunkt von Kurdwin Ayubs Sonne sofort zu erfassen. Drei Teenagerinnen an einem Nachmittag zusammen in einem Zimmer. Sie haben Hidschabs an, aber die Art und Weise, wie sie damit vor ihren Smartphone-Kameras herumposieren, legt nahe, dass es nicht ihre Alltagskleidung ist. Zumindest nicht von allen dreien. Wie Teenager so sind, haben sie besonderen Spaß am Obszönen, kommentieren etwa ihren »fetten Arsch« und finden zunehmend Gefallen an Gesten und Posen, die zur vermeintlichen Religiösität der Kleidung im Widerspruch stehen. Sie fangen an zu rappen, aber dann drängt sich der R.E.M.-Song »Losing My Religion« förmlich auf ihre Lippen, in die Bilder. »That’s me in the corner«, singt Nati (Maya Wopienka) und sitzt in der Ecke, während Bella (Law Wallner) und Yesmin (Melina Benli) sich zu »That’s me in the spot-light« an dem Anblick freuen, den ihre sich im Takt wiegenden kopftuchbedeckten Köpfe abgeben. Wie gesagt, auch als Kinozuschauer versteht man sofort, dass das Video viral geht. 

Etwas länger braucht man, um die Familien- und Freundeskonstellationen zu begreifen, von denen Ayub hier erzählt. Die 1990 im Irak geborene und in Wien aufgewachsene Regisseurin – die auf der Berlinale den Preis für den besten Erstlingsfilm erhielt –, stellt mit Yesmin eine Art Alter Ego in den Mittelpunkt. Yesmin ist Kurdin, aber in Wien geboren, und das »Losing My Religion«-Video, das ihre Freundinnen ohne sie zu fragen ins Internet stellen, löst bei ihr eine tatsächliche Krise aus. Es macht ihr deutlich, wie anders ihre nicht muslimischen Freundinnen behandelt werden, wie groß der kulturelle Clash zwischen ihnen doch ist. Im semidokumentarischen Stil lotet Regisseurin Ayub das aus, ästhetisch dabei so hautnah an der Lebenswirklichkeit ihrer Protagonisten, dass man sich zwischendurch direkt wie auf Instagram oder TikTok fühlt.

Mit diesem stilistischen Ansatz, der auch ein bisschen frustriert, schien Ayubs Sonne genau richtig im Encounters benannten zweiten Wettbewerb der Berlinale, den Festivalleiter Carlo Chatrian bei seinem Antritt vor zwei Jahren ins Leben rief. Noch immer ist nicht ganz klar, ob er sich damit einen Gefallen getan hat. Die »ästhetisch und strukturell wagemutigen Arbeiten von unabhängigen, innovativen Filmschaffenden« sollen hier eine Plattform erhalten, was im Gesamtgefüge der Berlinale aber nur Abgrenzungsschwierigkeiten zu den Nebensektionen erzeugt. Aus dem Ruf, lediglich die noch sperrigere Variante des ohnehin schon um populäre Elemente bereinigten Wettbewerbs zu sein, müssen die Encounters erst noch herausfinden. Filme wie die peinlich-selbstverliebte, russische Top Gun–Version »Brat vo vsyom«, der öde Altmännerbotschaftenaustausch zwischen Jean-Luc Godard und Ebrahim Golestan in Mitra Farahanis »À vendredi«, »Robinson« oder auch das brave Laienspiel zwischen Uhren und Anarchisten in der Schweiz des 19. Jahrhunderts in Cyril Schäublins »Unrueh« sind wenig dazu angetan, Interesse jenseits der Hardcore-Cinephilie anzuregen.

Dann wiederum: Allein dafür, dass Ruth Beckermannns »Mutzenbacher« einen Hauptpreis erhalten konnte, hat sich die Einführung der Sektion vielleicht doch gelohnt. Anderswo wäre der Film, der sich Zuschreibungen wie Essay oder Dokumentation völlig entzieht, zwischen die Ritzen gefallen. Beckermann hat für ihre Auseinandersetzung mit »Josefine Mutzenbacher«, dem 1906 in Wien zum ersten Mal erschienenen, skandalumwobenen und unter Kinderpornografieverdacht stehenden, erotischen Roman, eine bestechend einfache Form gefunden. Sie hat ausschließlich Männer allen Alters zum Casting gebeten. Das ist in sich schon eine hübsche Anspielung auf eine ganz moderne Internet-Pornokategorie. Der Film besteht aus diesen Castingaufnahmen, in denen Beckermann die Männer gewisse Stellen aus dem »Mutzenbacher«-Text vorlesen lässt, sie zum Nachspiel animiert oder sich einfach mit ihnen unterhält – darüber, was der Text in ihnen auslöst. Zwischendurch lässt sie sie im Chor das laute Skandieren von Obszönitäten üben. 

Das Ergebnis ist erstaunlich, erhellend und berührend – und dabei hochaktuell, was die Diskussion um #MeToo, Missbrauch, Männlichkeit und Sex angeht. Beckermann führt die Männer nicht vor, sondern ermöglicht in ihrer Versuchsanordnung von Spiel, Lesung und Interview eine Offenheit, in der die Vielschichtigkeit der Fragen einfach mal so stehen bleiben und der vermaledeite »male gaze« auf reflektierte Weise problematisiert werden kann: nicht als Schuldzuweisung, sondern als Erfahrung. 

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