75. Filmfestival Cannes

Die Gegenwart scannen
»Triangle of Sadness« (2022). © Cannes Film Festival

»Triangle of Sadness« (2022). © Cannes Film Festival

Die 75. Ausgabe des Internationalen Filmfestivals in Cannes begann mit großen Erwartungen, die dann größtenteils nicht erfüllt wurden. Tolle Filme und viele einprägsame Momente gab es trotzdem, wie immer nicht unbedingt nur im Wettbewerb

Das »Dreieck der Traurigkeit« befindet sich zwischen den frisierten Augenbrauen eines männlichen Models. Ein Casting-Agent bemängelt das fast unsichtbare Detail im Gesichtsausdruck von Carl (Harris Dickinson). Was Ruben Östlund in »Triangle of Sadness« ausstellt, ist dagegen weniger subtil. In seiner ätzenden Sozialsatire schickt er eine kleine, aber feine Gesellschaft von Reichen und Schönen auf einer Luxus-Jacht zuerst durch einen Sturm, der ihnen die soeben geschlürften Austern wieder hochkommen lässt, und dann, nach dem Kentern, durch eine Art Revolution, bei der die Hierarchie des Besitzes durch die der Fähigkeiten ersetzt wird. »Ich bin jetzt der Kapitän«, bemerkt trocken die philippinische Reinigungskraft, die als einzige weiß, wie man Fische fängt. 

Das Publikum in Cannes zeigte sich von »Triangle of Sadness« ausgesprochen amüsiert. Östlund erzählt mit Lust an Deftigkeit und so viel trockenem Witz, dass einzelne Szenen und Zitate noch tagelang Gespräch waren an der Croisette. Dass schließlich die Goldene Palme an die Ungleichheitssatire ging – für Östlund nach 2017 mit The Square bereits das zweite Mal –, kann in diesem Sinne als gutes Zeichen für das Kino gesehen werden: Es ist ein Film, der seine Zuschauer nicht quält, sondern bestens unterhält.

Die Frage nach der Zukunft des Kinos nach zwei Jahren des pandemie-bedingten Niedergangs dräute wie Gewitterwolken über dem diesjährigen Festival. Jede Rede, die gehalten wurde, beschwörte die Kraft des »cinéma« und die Magie von Cannes als seiner Kultstätte. Das Filmprogramm aber erwies sich als ausgesprochen durchschnittlich. Man war froh, dass das Festival wieder ohne Beschränkungen stattfinden konnte und verdrängte dafür nur zu gern die unguten Zeichen aus der Branche, die vom Schwinden der Besucherzahlen berichten. 

Dazu passt, dass in diesem Jahr ausgerechnet Tom Cruise als Retter des Kinos gefeiert wurde, und das für das Sequel eines 36 Jahre alten Erfolgs. Nun kann man »Top Gun: Maverick« viel abgewinnen, aber das eigentliche Herz von Cannes müsste woanders schlagen, oder?

Die ersten Tage standen noch ganz im Zeichen des Kriegs. Nicht nur des aktuellen. Die Quinzaine eröffnete mit dem neuen Film von Pietro Marcello, »Scarlet«, der damit beginnt, dass ein Mann traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrt. Der Eröffnungsfilm des Certain regard, »Father and Soldier« von Mathieu Vadepied  begab sich mitten hinein in den Ersten Weltkrieg, um sich einem bislang unterbelichteten Aspekt zuzuwenden: den afrikanischen Soldaten, die die Republik Frankreich in ihren Kolonien zwangsrekrutierte. Omar Sy, der Star, spielt einen senegalesischen Vater, der zusammen mit seinem Sohn gefangen und an die Front von Verdun verschleppt wird. Konsequent aus der Perspektive seiner schwarzen Helden erzählt, gelingt es Vadepied sowohl vom Vater-Sohn-Konflikt als auch vom Horror der Schützengräben zu erzählen.

Der Krieg der Gegenwart, der russische Überfall auf die Ukraine, blieb nach dem Überraschungsauftritt Wolodymyr Selenskyjs bei der Eröffnung dann doch ein Thema im Hintergrund. Schon früh hatte Cannes erklärt, keine russische Delegationen zuzulassen, sehr wohl aber einzelne Filmemacher. Übrig in der Auswahl blieb aber nur einer: Krill Serebrennikov, dem es gelang, einen kleinen Shitstorm auszulösen, als er seine Pressekonferenz mit einer Sympathiebekundung für den Oligarchen Roman Abramovich beendete. Vor nachhaltigem Ärger schützte ihn daraufhin wohl die verhältnismäßig kühle Aufnahme seines Films »Tchaikovsky’s Wife«. Obwohl das Porträt einer sich in Illusionen heillos verstrickenden Frau – die Ehe mit dem homosexuellen Komponisten war nach drei Monaten beendet – durchaus scharfe Bezüge zur russischen Gegenwart als unheilvollem Verblendungszusammenhang enthielt, ließ das Historiendrama das Publikum kalt. 

Immerhin kam dann mit Östlunds »Triangle of Sadness« das Festival wieder bei dem an, was die eigentliche Stärke des Arthouse-Kinos darstellen sollte: auf künstlerische Weise Gegenwart zu sezieren. Einen alarmierenden »Scan« der Lage in seiner Heimat Rumänien lieferte Christian Mungiu mit »R.M.N.«. Erzählt wird von einer transilvanischen Kleinstadt heute: Dass die hier alteingesessenen Rumänen, Ungarn und Deutschen miteinander streiten, ist Normalität. Gestört wird der prekäre Friede aber, als die örtliche Brotfabrik Arbeiter aus Sri Lanka anheuert. Das Herzstück von Mungius Film ist eine Gemeindeversammlung, bei der all die Ressentiments zur Sprache kommen, die sich 30 Jahre nach dem Mauerfall zwischen Ost und West so etabliert haben. Hinter der Fremdenfeindlichkeit verbergen sich Vorurteile gegen Umweltschutzauflagen und andere »EU-Diktate«. »Bald dürfen wir nicht mehr Mama und Papa sagen!« klagt eine Bürgerin. Sie alle wissen um das Lohngefälle, das dafür sorgt, dass die Rumänen selbst gen Westen ziehen, um dort besser zu verdienen. Dass es den Menschen in Sri Lanka ebenso ergeht, weshalb sie für Mindestlohn nach Rumänien kommen, will man nicht verstehen.

Mungiu ging bei der Preisverleihung bedauerlicher Weise leer aus, und das, obwohl die Jury unter Vorsitz von Vincent Lindon aus einem Programm von 21 Filmen ganze zehn auszeichnete. Darunter die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, für deren Migrantendrama »Tori und Lokita« ein eigener Preis, »zu Ehren der 75. Ausgabe« erfunden wurde, obwohl sie bereits zu den meist prämierten Regisseuren der Cannes-Geschichte gehören.

Zwei Mal vergab die Jury Preise ex aequo: Der Grand Prix ging an das Jugendfreundschaftsdrama Close des belgischen Regisseurs Lukas Dhont und an Claire Denis für ihren atmosphärischen Spionage-Thriller »Stars at Noon«. Während der berührende »Close« zu den großen Kritikerfavoriten gehört hatte, gab es für Denis einzelne Buhrufe. Auch der Jury-Preis wurde geteilt: Ihn nahm der polnische Altmeister Jerzy Skolimowski für seine an Robert Bresson angelehnte Esels-Parabel EO und das belgische Paar Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch für ihre Geschichte einer Männerfreundschaft, »The Eight Mountains« entgegen. Viel Beifall gab es für den Koreaner Park Chan-wook, der für seine Film-noir-Hommage »Decision to Leave« die Palme für die beste Regie erhielt. Mit seinen komplexen, oft blutigen Thrillern wurde Park eine Art Kultregisseur auch in Europa. »Decision to Leave« zeigt ihn von einer ungewohnt romantischen und besonders cinephilen Seite. Der männliche Darsteller-Preis ging ebenfalls an einen Koreaner: Song Kang-ho, auch er spätestens seit seinem Auftritt im oscarprämierten »Parasite« eine Kultgestalt, erhielt ihn für die Darstellung eines Kleinkriminellen im Sozialdrama »Broker« des japanischen Regisseurs Hirokazu Kore-eda.

Einen durchaus besonderen Akzent setzte die Jury schließlich mit zwei Preisen, die an im Exil entstandene Filme gingen: Der schwedisch-ägyptische Regisseur Tarik Saleh wurde für das Drehbuch zu seinem religiösen Verschwörungsthriller »Boy from Heaven« honoriert, den er in Ägypten nie hätte realisieren können. Dasselbe gilt auch für Holy Spider des dänisch-iranischen Regisseurs Ali Abbasi, der darin die wahre Geschichte eines fanatischen Frauenmörders schildert. Zu den bewegendsten Momenten des Abends gehörte schließlich, wie die Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi, die in Holy Spider eine ihr Leben riskierende Journalistin verkörpert, die Palme als beste Darstellerin entgegennahm. Für die 40-Jährige, die vor über 15 Jahren wegen eines gefälschten Sex-Videos den Iran verlassen musste, bedeutete die Auszeichnung eine späte Genugtuung. Ihre Beschwörung dessen, was allein das Kino kann, war mehr als hohle Worte, sondern berührende, gelebte Erfahrung.

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