Dokumentarfilm »Lovemobil« – Eine Nachlese

Alle wollen Authentizität
»Lovemobil« (2019). © NDR/Christoph Rohrscheidt

»Lovemobil« (2019). © NDR/Christoph Rohrscheidt

Elke Margarete Lehrenkrauss hat für ihren Dokumentarfilm »Lovemobil« recherchierte Geschichten nachgestellt und stilisiert. Ist sie eine Betrügerin? Und was kann man aus dem »Skandal« lernen?

Ende März wurde die deutsche Dokumentarfilmszene durch eine Reportage des NDR-eigenen investigativen YouTube-Formats »Strg_F« aus dem Winterschlaf gerissen. Der Inhalt: Der von Regisseurin Elke Margarete Lehrenkrauss 2015 bis 2019 für den Sender produzierte und unter anderem 2020 mit dem Deutschen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnete Film »Lovemobil« sei über weite Strecken mit nicht ausgewiesenen Darsteller:innen inszeniert. Das hätten nach dem Hinweis einer am Film beteiligten Editorin betriebene Recherchen ergeben. Gleichzeitig dis­tanzierte sich die zuständige NDR-Dokumentarfilmredaktion von »Lovemobil« und gab sich »getäuscht« und »enttäuscht«; der Film wurde für Wiederholungen gesperrt und aus der Mediathek entfernt. Auch das Grimme-Institut nahm »Lovemobil« von der Nominierungsliste »Information und Kultur«. Lehrenkrauss gab den zuerkannten Preis zurück und erklärte ihr Handeln in der Reportage mit Motiven wie Rücksicht auf ihre Protagonistinnen und Überforderung.

Unmittelbare Folge war eine mediale Erregung, die um den Vorwurf »Fake« kreiste. Doch nachdem der erste Rauch sich verzogen hatte, kamen auch reflektiertere Stimmen zum Ausdruck, und es entwickelte sich eine lebendige und intensive Debatte um die Konditionen dokumentarischen Filmemachens in der Branche selbst. Schließlich berührten die Umstände des Falls das Innerste des eigenen Selbstverständnisses.

Denn Lehrenkrauss hatte – im Unterschied etwa zu den gezielten Fälschungen des Reporters Claas Relotius – für ihren Film über weibliche Prostituierte, die an einer Bundesstraße in Niedersachsen in gemieteten Wohnmobilen ihre Dienste anbieten, viele Jahre gründlich recherchiert. Doch dann bekam sie die entscheidenden Personen und Situationen nicht wie erhofft vor die Kamera. Und machte ihre beiden im Film vorgestellten Sexarbeiterinnen aus Bulgarien und Nigeria zu kondensierten Kunstfiguren. Freier und Zuhälter wurden (nach Auskunft in der Reportage) von Darstellern aus Bekannt- und Nachbarschaft verkörpert.

Am intendierten emotionalen Effekt des Films dürfte diese personelle Verschiebung wenig ändern, sie hintergeht aber das Vertrauen des Publikums und bricht das dokumentarische Versprechen offengelegter Referenz auf die außerfilmische Realität. Dass die sorgfältig komponierten und ausgeleuchteten Einstellungen in den nächtlichen Wohnwagen und andere Szenen stark inszeniert sind (und so den Stilwillen der Regie zeigen), ist leicht zu sehen. Dass die beiden Sexarbeiterinnen Kunstfiguren sind, lässt sich mit einiger filmischer Erfahrung aus ihrem Erzählgestus manchmal ahnen, doch nie absichern. Deshalb ist es im Dokumentarfilm üblich, solche Eingriffe in irgendeiner Form auszuzeichnen, etwa durch Inserts, distanzierende inszenatorische Kunstgriffe oder eine Darstellerliste im Abspann. In »Lovemobil« gibt es nichts davon, selbst in Interviews und Publikumsgesprächen bei Festivals beharrte die Regisseurin auf ihrer Version des Drehs und malte Details anschaulich aus.

Dass diese Methode der Nicht-Kennzeichnung auch ethisch höchst problematisch ist, zeigt der paradoxe Effekt des auf den ersten Blick ehrenwerten Motivs, die Protagonistinnen vor Outing zu schützen. Denn durch den fehlenden Nachweis der Rollen werden die scheinbar sich selbst darstellenden Darsteller:innen ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt – nach bisherigem Stand ohne deren Wissen um diesen Status. Lehrenkrauss' ­Behauptung, hier mit offenen Karten gespielt zu haben, geriet dabei in erhebliche sachliche Widersprüche. Ein im Film als Zuhälter auftretender Darsteller verhindert nun weitere Aufführungen von »Lovemobil«. 

Erklären lassen sich Lehrenkrauss' Täuschungen nur durch Chuzpe oder Druck. Letzteres legen die Distanzierungs-Statements der NDR-Redaktion nahe, die eine eher beschränkte Vorstellung von Dokumentarfilm zeigen (Redakteur Timo Großpietsch: »Die Geschäftsgrundlage dieses Films ist Realität und Authentizität«). Der Begriff der »künstlerischen dokumentarischen Form« wird dort kurzerhand distanzierend als »irreführende« Bezeichnung »einiger Filmfeste« deklariert. Und in der 27-minütigen »Strg_F«-Reportage fällt der nicht näher erläuterte Begriff »echt« zehn Mal. Dass die Sache mit der »Verpflichtung auf die Realität« (NDR) etwas komplizierter ist, zeigt an diesem Fall konkret, dass – jedenfalls nach einem späteren Interview mit Lehrenkrauss – eine für das ursprünglich breiter angelegte Vorhaben der Regisseurin zentrale Protagonistin aus dem Film flog, weil sie nicht ins redaktionelle Konzept passte. Hier mehr zu erfahren, wäre interessant.

Ironischerweise ist aber auch gerade der Wunsch nach starken authentischen Geschichten (der hier mit dramatisch emotionalisierenden Backstorys der beiden Hauptfiguren übrigens Regisseurin und Redakteur verbindet) ein großes Problem vieler Filme. Nicht nur, weil in »Lovemobil« die Jagd nach den starken Szenen direkt in das Lügengebäude führte. Sondern auch, weil gerade in prekären Bereichen wie der Armuts-Prostitution die unmittelbare Nähe zum Objekt voyeuristische Verhältnisse prädestiniert. Distanz ist da ein besserer Ratgeber. Ein Beispiel, wie es anders gehen kann, zeigt etwa Anja Salomonowitz' »Kurz davor ist es passiert«, der Berichte der Opfer von Frauenhandel in die Münder derer legt, die eigentlich auf der anderen Seite der Geschäfte stehen. So werden diese zugleich verdeutlicht und verfremdet.

Mit Stellungnahmen aus unterschiedlichen Positionen ist die Debatte über »Lovemobil« mittlerweile – abgesehen von der Anerkennung des individuellen Fehlverhaltens der Regisseurin – auch eine über systemische Defizite in einer Branche, wo prekäre Arbeitsbedingungen neben großen Erwartungen stehen und konventionelle identifikatorische Formen neben vielfältigen ästhetischen Aufbrüchen. So haben viele Festivals in den letzten Jahren die kategorische Trennung zwischen Spiel- und Dokumentarfilm aufgehoben, um mehr Raum für hybride Formen zu geben. Einige der interessantesten Arbeiten stellen in der selbstreflexiven Offenlegung ihrer Herstellung die Konventionen dokumentarischer Abbildung infrage. 

So ist das Geschehen um »Lovemobil« für viele Beteiligten auch willkommener Anlass zur öffentlichen Ausweitung eines Diskurses, der bisher aus internen Zirkeln kaum herauskam. Hoffen wir, dass dieser statt der Betonung von Regelwerk und No-Gos die vielfältige Wahrnehmung des Dokumentarischen produktiv weiterbringt. Mit den Worten einer Mitte April veröffentlichten Stellungnahme der Deutschen Akademie für Fernsehen: »Auftraggebende Redaktionen, Filmförderungen und Festivals präferieren heute oft Erzählweisen, deren Dramaturgie ›dokumentarische Unebenheiten‹ möglichst eliminieren soll. Sie prägen damit den Publikumsgeschmack und setzen die Filmemacherinnen und Filmemacher auch einem Erfolgsdruck aus, dem mit dokumentarischen Mitteln zunehmend nicht mehr standzuhalten ist. Dies gilt es gemeinsam zu verändern.« 

LOVEMOBIL: Dokumentarfilm über Prostitution gefälscht? [STRG_F | YouTube]

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