Festival des osteuropäischen Films in Cottbus

Die Macht der Sprache
»Conference« (2020)

»Conference« (2020)

Ein beeindruckender Film über eine Geiselnahme in Moskau 2002 durch tschetschenische Separatisten gewann den Hauptpreis auf dem Festival des osteuropäischen Films in Cottbus

Moskau, 23. Oktober 2002. Auf dem Programm des ausverkauften Dubrowka-Theaters steht das Musical »Nordost«, eine russische Antwort auf »Cats« und »Phantom der Oper«. Jungs in Uniform führen Tänze auf, als ein Maskierter die Bühne erklimmt und mit der Kalaschnikow gegen die Saaldecke feuert. Das Publikum lacht. Nur allmählich wird den 800 Theatergästen klar, dass sie Gefangene eines 40-köpfigen paramilitärischen Kommandos aus Tschetschenien sind.

»Conference«, der Film, erinnert an den Terroranschlag, der Moskau vor 18 Jahren erschütterte. Für seine beklemmende Rückschau auf die dreitägige Geiselnahme, an deren Ende, bei der Befreiung, mehr als 130 Menschen starben, wurde Ivan I. Tverdovskiy der mit 25 000 Euro dotierte Hauptpreis des diesjährigen Filmfestivals Cottbus verliehen. Nach Corrections Class (2014) und Zoology (2016) erhielt der russische Regisseur die begehrte Auszeichnung bereits zum dritten Mal auf dem Festival, das ausgerechnet anlässlich seines 30-jährigen Bestehens wegen der Corona-Bestimmungen seine 150 Filme nur online zeigen konnte.

Mit »Conference« gelingt Tverdovskiy eine filmische Coincidentia oppositorum, ein Zusammenfall von Gegensätzen. Das Erleben von Menschen, die drei Tage lang den Tod vor Augen hatten, erzählt der Film in Form einer meditativen Rückschau. Zentrale Figur ist Natasha (Natalya Pavlenkova), eine Überlebende, die nach dem traumatischen Ereignis ins Kloster ging. Jahre später kehrt die Ordensfrau nach Moskau zurück, denn sie hat das Erlebte nicht verarbeitet. Eine Gedenkveranstaltung soll ihr dabei helfen. In den Formularen des Theaters, in dem das Event stattfinden soll, muss sie aufgrund der Bürokratie die Rubrik »Konferenz« ankreuzen. Mehrere Dutzend Überlebende erscheinen zu dem Treffen, auf dem Natasha ein Mikrophon herumreicht. Was zunächst tatsächlich wie eine prätentiöse Konferenz im akademischen Milieu anmutet, wandelt sich zur vielstimmigen Erinnerung an das Unvorstellbare. Nicht in Actionszenen, sondern mit dem Blick auf die Gesichter von Menschen, die um Worte für das Unfassbare ringen, zeichnet der Film nach, wie die tschetschenischen Terroristen die Theaterbesucher seinerzeit in Schach hielten. Die Geiselnehmer interessierten sich nicht nur für Politik. Auch die Marken der eingesammelten Mobiltelefone erregten ihr Interesse. Einige der Terroristen spielten Videospiele auf den Handys. Als Frauen aus dem Toilettenfenster entkamen, mussten die Geiseln ihre Notdurft im Orchestergraben verrichten.

»Conference« setzt auf die Macht der Sprache: »Ein Film wie eine Naturgewalt«, so die Jury über diese elegische Reflexion über Angst, die allerdings auch Schwächen aufweist. Unscharf ist beispielsweise der Blick auf den islamistischen Hintergrund des Terrors, der sich 2015 auf gespenstische Weise mit dem Pariser Bataclan-Anschlag wiederholte. Nicht deutlich wird in »Conference« auch, dass der russische Inlandsgeheimdienst bei seiner Befreiungsaktion mit einem umstrittenen Gaseinsatz den Tod der Geiseln billigend in Kauf nahm.

Der mit 7 500 Euro dotierte Spezialpreis für die beste Regie ging an den polnischen Regisseur Piotr Domalewski für »I Never Cry«. Das präzise beobachtende Sozialdrama erzählt die Geschichte der 17-jährigen Ola, die den Leichnam ihres Vaters, der als Gastarbeiter in einem Dubliner Containerhafen tödlich verunglückte, nach Polen überführen muss. Den Preis für darstellerische Einzelleistungen erhielten Marijana Novakov, Tijana Marković und Valentino Zenuni. In dem anrührenden Drama »Oasis« des serbischen Regisseurs Ivan Ikićs gaben die drei Debütanten nach Ansicht der Jury einen »fesselnden« Einblick in die Gefühlswelten junger Menschen mit geistiger Behinderung, die im routinierten Alltag einer Pflegeeinrichtung ihre Würde nicht verlieren wollen. Preise im Wert von 72 000 Euro vergab das Festival, das einmal mehr ein erfreulich breites Spektrum osteuropäischer Filmemacher präsentierte.

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