Venedig: Zum Abschluss ein Skandal oder ein Außenseiter

76th Venice International Film Festival
»J'Accuse« (2019)

»J'Accuse« (2019)

Wer kriegt den Goldenen Löwen? Die Höhepunkte des Filmfestivals von Venedig belegen, dass es ein Kino jenseits von Hollywood und Netflix gibt

Zur Natur von Neuerfindungen gehören die ungewollten Nebeneffekte. Dass das Filmfestival von Venedig sich in den letzten Jahren als Startrampe des Oscar-Rennens neu definiert hat, bringt zum Beispiel mit sich, dass mehr noch als früher die US-amerikanischen Filme sämtliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Darüber vergisst man leicht, dass die Löwen-Preisträger der letzten Jahre keineswegs immer deckungsgleich mit denen beim Oscar waren.

Im Gegenteil, für jeden »Shape of Water« (Goldener Löwe 2017 und Bester Film Oscar 2018) gibt es einen vierstündigen philippinischen Film (»The Woman Who Left«, 2016), einen karges Männerdrama aus Venezuela (»From Afar«, 2015) oder ein existentialistisches Essay aus Schweden (»Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach«, 2014), das späteren Oscar-Favoriten wie »Birdman« die Schau stiehlt. Zumindest in der Woche der Löwenvergabe am Lido.

Genau das könnte sich am Samstag nun wiederholen: Es waren zwar auch beim 76. Filmfestival von Venedig wieder die amerikanischen Produktionen, Steven Soderberghs »Laundromat«, James Grays »Ad Astra«, Noah Baumbachs »Marriage Story« und vor allem Todd Phillips' »Joker«, die die größte Aufregung verursachten. Aber zu den Top-Kandidaten für den Goldenen Löwen, den die Jury unter Vorsitz der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel vergeben wird, zählt keiner dieser Filme. »Laundromat« und »Ad Astra« stellten sich eher als Enttäuschungen heraus: als Filme, die ihr Versprechen auf Zeitpolemik (Soderbergh) beziehungsweise emotionale Tiefe (Gray) nicht wirklich einlösen konnten.

Baumbachs Neuauflage einer »Kramer vs Kramer«-Geschichte und Phillips' Neuinterpretation des Comic-Helden als bittererer sozialer Realismus begeisterten zwar Publikum und Kritik am Lido, aber beide Filme richten ihren Blick eine Spur zu sehr auf die eigene US-amerikanische Gesellschaft – und passen deshalb weniger in die Weltkino-Tradition von Venedig. Für Baumbach oder Phillips könnte es dennoch einen Silbernen Löwen oder einen Regie-Preis geben; ihre Schauspieler, Adam Driver und vor allem Joaquin Phoenix, sind große Kandidaten für die Coppa Volpi, den Darstellerpreis, der auf der weiblichen Seite genauso gut für Scarlett Johansson vorstellbar wäre. Oder auch, da einmal mehr das Feld der großen Frauenrollen nicht ganz so groß ist, sogar für Meryl Streep in »Laundromat«.

Das Rennen um den Hauptpreis, den Goldenen Löwen aber wird woanders ausgetragen: Da gilt etwa die italienische Jack-London-Verfilmung »Martin Eden« als heißer Anwärter. Pietro Marcello zeigt darin das Dilemma eines Intellektuellen in streitbarer Zweideutigkeit, mit Zurückweisungen sowohl von linken als auch rechten Positionen, was dem Film dementsprechend Feinde einbrachte in der politisierten Atmosphäre des heutigen Italien.

Als aussichtsreicher Kandidat gilt auch die dreistündige Literaturverfilmung »The Painted Bird« vom Tschechen Václav Marhoul nach dem Weltbestseller von Jerzy Kosinski. Der Film erzählt vom Schicksal eines jüdischen Jungen in den 1940er Jahren, der sich im Hinterland des Holocaust durchschlagen muss, in Form eines dreistündigen Höllentrips. Ein Panorama des Schlimmsten, zu was der Mensch fähig ist, das nicht ohne Wirkung auf den Zuschauer bleibt.

Wo Marhoul tief in die Trickkiste des »langsamen Kinos« mit Vorbildern wie Andrej Tarkowski und Bela Tarr greift, präsentierte der Chilene Pablo Larraín mit seinem Adoptions- und Tanzdrama »Ema« einen der modernsten Filme des Wettbewerbs. Begleitet von einem Score, der den Zuschauer rhythmisch in den Bann schlägt, handelt »Ema« von Verlust, Tanz und Befreiung, von der Auflehnung gegen traditionelle familiäre Bindungen und ihrer Neuerfindung in ungewöhnlichen Konstellationen, nicht unbedingt ein Feelgoodmovie, aber ein Film voll stolzem Trotz, der von der lateinamerikanischen Präsidentin wahrscheinlich nicht unbeachtet bleibt.

Zum Abschluss könnte es auch noch einen kleinen Skandal geben. Die Diskussion um die Wettbewerbsteilnahme von Roman Polanski und seinem Dreyfus-Drama »J'accuse« hatte nämlich zur Folge, dass Jurypräsidentin Martel sich zur Stellungnahme gezwungen sah, und dabei in verständliche Widersprüche geriet: Einerseits wollte sie nicht der Premiere beiwohnen, in der Polanski per Skype zugeschaltet wurde, andererseits beteuerte sie, seinen Film wie alle anderen in Erwägung ziehen zu wollen. Nun kam Polanskis äußert effektiv erzählte Geschichtslektion ausgesprochen gut an beim Publikum in Venedig; eine Auszeichnung scheint weder unverdient noch aus der Welt, wäre aber garantiert mit heftigen Reaktionen sowohl des Protests als auch der Verteidigung verbunden.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt