Kinderfilmfestival Lucas – Verlorene Illusionen

Das traditionsreiche Kinderfilmfestival Lucas zeigte, wie das Leben mit den ­Jahren immer schwerer wird. Bei den 8+-Filmen dominierte die Unterhaltung, in der ­Teen-Sektion dagegen ging es oft ums Überleben

Identitätsfindung, die Suche nach einem Platz im Leben, die Bewältigung persönlicher und familiärer Krisen – die klassischen Themen des Kinder- und Jugendfilms prägten beim diesjährigen Lucas ein äußerst kontrastreiches Programm mit 70 Lang- und Kurzfilmen aus 35 Ländern.

Unter der neuen Festivalleiterin Julia Fleißig dominierten im Langfilmwettbewerb der 8+ eher unterhaltende Werke, die sich an der Lebenswelt des jungen Publikums orientieren. Unter ihnen eine Reihe von skandinavischen Beiträgen, in denen traditionell selbstbewusste Kinder, unterstützt von einfühlsamen Eltern, ihre Interessen durchzusetzen wissen. Das gilt auch für die norwegisch-schwedische Produktion »Gilberts grusomme Hevn« (Regie Hanne Larsen). Der elfjährige Gilbert leidet unter einer Eierallergie, die ihn immer wieder zum Erbrechen reizt und ihm bei seinen Mitschülern den Namen »Spewbert« einträgt. Nimmt sich der Film zu Beginn noch des Dilemmas seines Protagonisten an, so geht das Thema mit dem Auftauchen einer unentwegt pupsenden Tante, die dem Kleinen das Leben zur Hölle macht, alsbald in Klamauk unter. Auch der Erstklässler Villads in dem dänischen Film »Villads fra Valby« von Frederik Nørgaard kann auf den Rückhalt durch seine Eltern rechnen, wenn er am ersten Schultag den Kampf mit dem Lehrer aufnimmt und als Anführer einer Gruppe kleiner Wildpinkler gegen die Zustände auf der Schultoilette protestiert. Ebenfalls aus Skandinavien kommt der Sieger in dieser Kategorie: »Oskars Amerika« von Torfinn Iversen, die Geschichte eines Jungen, der von einer Atlantiküberquerung träumt.

Herausragend in der Sektion 8+: die wunderbare »Königin von Niendorf«. Wie eine Prinzessin, gar eine Königin, sieht die kleine, etwas zerknautscht und skeptisch in die Welt blickende Lea (Lisa Moell) in ihrer zerschlissenen Latzhose nicht aus. Während ihre Klassenkameradinnen ins Feriencamp fahren, stromert die Zehnjährige mit ihrem Fahrrad durch Dorf und Umgebung in der brandenburgischen Provinz, besucht ihren Freund Mark, einen älteren Aussteiger und Musiker, der allein auf einem Bauernhof lebt, und weiß sich wortkarg und mutig die Führungsrolle in einer Jungenbande zu erobern. In ruhigen, nie idyllisierenden Momentaufnahmen, immer auf der Höhe ihrer Hauptfigur, entfaltet Regisseurin Joya Thome ihre Geschichte vom kurzen Sommer der Kindheit, in den die Probleme des Erwachsenenlebens erste Schatten werfen.

Im Kontrast dazu das Langfilmprogramm des Wettbewerbs 13+: Kindheit als behüteter Raum – davon können die meisten jugendlichen Protagonisten in dieser Reihe nur träumen. Prostitution, Leben auf der Straße, Heimerziehung bestimmen unter anderem das Themenspektrum. Die kleine Lulu etwa, Hauptfigur des philippinischen Films 1-2-3, träumt von einer Karriere als Sängerin und landet in einem Rotlichtbezirk von Manila, wo sie mit vielen anderen Mädchen Zuhältern und Touristen ausgeliefert ist. Obwohl der eher leise Film versöhnlich endet, lässt Regisseur Carlo Obispo keine Illusionen darüber aufkommen, dass das Überleben vieler philippinischer Familien mit dem Körper ihrer Kinder erkauft wird. Auch der halbwüchsige Hassan in dem iranischen Film »Gamichi« (Steuermann), dem ästhetisch eigenwilligsten in dieser Sektion, kämpft um seine Existenz, nachdem der Vater die Familie verlassen hat und die Mutter gestorben ist. Verzweifelt klammert Hassan sich an die – angesichts des ausgetrockneten Sees – sinnlose Hoffnung, das Schiff der Familie mit Hilfe seines Freundes Naji retten zu können. Mit den Bildern der kargen und menschenleeren Landschaft protestiert Regisseur Majid Esmaeili zugleich gegen die menschengemachte ökologische Katastrophe am Urmiasee im Norden des Iran.

Auf die Zustände in dänischen Erziehungsheimen der 1960er Jahre blickt »Der kommer en dag« zurück. In düsteren Bildern erzählt Regisseur Jesper W. Nielsen von zwei Brüdern, die in einem autoritären System, das Missbrauch toleriert und Terror zwischen den Zöglingen fördert, fast zugrunde gehen. Sicher nicht zufällig erinnert das Setting, mitsamt der Architektur des »Heims«, an die Ästhetik von KZ-Filmen. Der Preis in dieser Sektion ging an den französischen Film Ava von Léa Mysius, eine Coming-of-Age-Geschichte um ein Mädchen, das langsam sein Augenlicht verliert.

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