DOK Leipzig 2017: Gelebte Gegensätze

»Muhi – Generelly Temporary« (2017)

»Muhi – Generelly Temporary« (2017)

60. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm: Im Deutschen Wettbewerb zeigte sich, dass manchmal das Konventionelle weiter trägt als die Bemühungen um Originalität

Mit seiner interessanten, weil gebrochenen Geschichte hatte es die 60. Ausgabe des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm in diesem Jahr nicht so. Dafür wurden Weichen für die Zukunft gestellt. Angesichts eines Deutschen Wettbewerbs, in dem sich bei neun Filmen gerade eine weibliche Ko-Regie fand, verkündete Festivalleiterin Leena Pasanen die Einführung einer Quote für die kommenden beiden Jahre. Man darf gespannt sein, was der bewusste Einsatz eines solchen Mittels zu ändern vermag.

Der Gewinnerfilm des deutschen Wettbewerbs, die deutsch-isrealische Koproduktion »Muhi – Generally Temporary« von Rina Castelnuovo-Hollander and ­Tamir Elterman spielt in Israel. Ein kleiner Junge aus dem Gazastreifen, Muhammed, genannt Muhi, lebt dort im Krankenhaus mit seinem Großvater, weil nur hier seine medizinische Versorgung gesichert ist: Als Notfall angekommen, mussten dem Kind Arme und Beine amputiert werden. Was seiner Lebensenergie nichts anhaben kann – es ist berührend zu sehen, wie das Kind als Kugelblitz und Darling der Station auf seinen Stümpfen durch die Flure flitzt oder welche Geschicklichkeit es entwickelt, mit der Armbeuge einen Löffel zum Suppe-Essen zu führen. Seine Zuspitzung erfährt »Muhi – Generelly Temporary« in der Verbindung von politischer Großwetterlage und persönlicher Geschichte. Der Film erzählt von einer Entfremdung; beim letzten dokumentierten Besuch der Mutter muss der Siebenjährige realisieren, dass er nie mehr zu ihr und seinen Geschwistern gehören wird. Sein einziger Verbündeter bleibt der Großvater, der in seiner Traurigkeit eine große, sympathische Gestalt ist. Wie nebenbei führt »Muhi – Generally Temporary« vor, dass der Hass zwischen verschiedenen Herkünften keineswegs eine anthropologische Konstante ist. Auf die Frage nach seinem Helden sagt der Junge, der am Ende auf eine arabisch-israelische Schule gehen wird: »Bibi Netanjahu.« Und Buma, der Betreuer und Vermittler zwischen den Welten, eine Figur der Vernunft, die Entlastung für den Zuschauer bietet, muss lachen.

In seiner konventionellen, allein an der Beobachtung seiner drei Protagonisten orientierten Erzählweise bildete der Siegerfilm ein Kontrastprogramm zu manch anderem Beitrag. David Sievekings Eingeimpft etwa, in dem nicht mal uninteressante Recherchen und Animationen über die Frage nach dem Sinn des Impfens eingezwängt sind in die naiv-puppenstubenhafte Ich-Erzählung. Wie schon in »David Wants to Fly« und »Vergiss mein nicht« erschließt ­Sieveking trademarkbewusst ein Thema über seine eigene Person. Das mag es dem Publikum leicht machen und für künftige Ethnografien eines wohlständig-(west)deutschen Neobürgertums reichen Stoff bieten. Diese Methode, in der der inszenierte Konflikt mit der Frau wichtiger ist als die Entdeckung eines faszinierenden Protagonisten, macht am Ende aber immer alles klein.

David Spaeths Film »Betrug« berichtet von einer unerhörten Begebenheit: Ein unterprivilegierter Hochstapler lässt sich zum Finanzvorstand eines Schwabinger Muster-Kindergartens wählen und veruntreut die sechsstelligen Rücklagen auch dafür, sein eigenes Leben in die Liga der anderen zu pimpen. Aufgelöst wird das in lauter frontale Couch-Interviews der Betroffenen, was bei aller Eloquenz des Betrügers nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Spaeth, weil selbst in die Geschichte verwickelt, wie mit angezogener Handbremse inszeniert.

Als ziemliche Wucht stellte sich dagegen »Wildes Herz« heraus, ein Film von Sebastian Schultz und dem Schauspieler Charly Hübner, an dem der Titel das Blödeste ist. Gezeigt wird eine Entwicklung vom Hansa-Rostock-Hooligan zum tatkräftigen Antifaschisten – die Geschichte von Jan »Monchi« Gorkow, dem charismatischen Sänger der Band Feine Sahne Fischfilet. »Wildes Herz« war der Liebling des Wettbewerbs. Und ein Film, der wegen seiner einfachen wie klugen Beschreibungen eines jungen deutschen Lebens in Mecklenburg-Vorpommern zu den politischen Verschiebungen im Lande passt. Der »Rechtsruck« hat Monchi jedenfalls nicht überrascht, weil sich in der Wirklichkeit, in der er großgeworden ist und noch immer lebt, schon viel früher etwas verschoben hat als 2017.

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