Festival Locarno – Generationentreffen

 Sina Ataeian in »Ma dar Behesht«

Locarno ist mit seinen vielen Sektionen ein bisschen unübersichtlich geworden. Newcomer entdecken? Schauen, was die Säulen des
Arthouse-Kinos so treiben? Oder deutsche Koproduktionen scouten?

Ausgerechnet als die Hochzeitsfeier in vollem Gange war, setzte der Regen ein – eine herbe Enttäuschung für die 1100 Zuschauer, die um Mitternacht auf der Piazza Grande ausharrten, um Michael Ciminos »The Deer Hunter« zu sehen. Aber selbst die erste halbe Stunde reichte aus, um zu erkennen, wie meisterlich dieser Film ist. Beim diesjährigen Filmfestival von Locarno lief »Deer Hunter« als Tribut an den Regisseur, dem – wie auch Marco Bellocchio, Marlen Khutsiev, Bulle Ogier, Edward Norton, Andy Garcia, Walter Murch und dem Office Kitano – ein Ehrenpreis verliehen wurde. Die Geehrten waren alle anwesend, gaben Einführungen zu ihren Filmen und stellten sich in längeren Gesprächsrunden dem Dialog mit dem Publikum.

Schade, dass Ciminio, von dem man gerne erfahren hätte, was er in den fast zwei Jahrzehnten seit seinem letzten Film »The Sunchaser« gemacht hat, dabei eher allgemeine Antworten gab. Cimino habe sie für »The Sicilian« engagiert, weil sie mit Peckinpah gearbeitet hatte, erklärte Kathy Haber, die langjährige Mitarbeiterin des Hollywood-Mavericks, dem die Retrospektive des Festivals gewidmet war – auch ein Hinweis, dass Ciminos Filme, die hier einen bemerkenswerten Publikumszuspruch fanden, noch zu faszinieren vermögen. Wer mit ihnen vertraut war, hatte in Locarno die seltene Gelegenheit, seine frühen Fernseharbeiten zu sehen, die vieles – inhaltlich wie stilistisch – vorwegnahmen .

Auf der Piazza Grande, im Zentrum des Festivals, fand der Eröffnungsfilm, Jonathan Demmes »Ricki and the Flash«, trotz fehlender Stars 8100 Zuschauer, während die anwesende Amy Schumer in »Trainwreck« 6700 Gäste unterhielt und sich Lars Kraume für die Weltpremiere von »Der Staat gegen Fritz Bauer« über 6400 Zuschauer freuen konnte. Deutschland war zudem mit zahlreichen Koproduktionen vertreten, unter denen besonders »Ma dar Behesht« Eindruck hinterließ. Das ohne offizielle Erlaubnis in Teheran gedrehte Langfilmdebüt von ­Sina Ataeian Dena erzählt von einer jungen Lehrerin im Kampf mit der Bürokratie und erlebte zwei Zusatzvorführungen.

Mit seinen zahlreichen Sektionen ist das Festival ein wenig unübersichtlich geworden und stellt den Besucher vor die Qual der Wahl: die großen Namen von morgen zu entdecken oder zu überprüfen, was arrivierte Regisseure wie Chantal Akerman (deren »No Home Movie« über ihre Mutter letztlich doch eines war), Otar Iosseliani, Alex Van Warmerdam (dessen Auftragskiller-Groteske »Schneider vs. Bax« wieder mit lakonischem Humor brillierte) oder Andrzej Zulawski heute machen? Zulawski, vor vielen Jahren in seine Heimat Polen zurückgekehrt und dort als Romancier tätig, legte mit der Witold-Gombrowicz-Adaption Cosmos seinen ersten Film seit 15 Jahren vor, das schraubte die Erwartungen hoch – zu hoch, vielleicht wird ein zweiter Blick dieser Farce eher gerecht, in der besonders Sabine Azéma durch ihr outriertes Spiel auffiel. Ganz im Gegensatz dazu glänzte ihr langjähriger Leinwandpartner André Dussollier in »Le Grand Jeu«, dem Debüt von Nicolas Pariser, als charismatisch-intriganter Strippenzieher, der einen einst erfolgreichen Romanautor anheuert, um mit einem anonym verfassten Pamphlet Politik zu machen. Am Ende nehmen die Thrillermomente zwar überhand, aber zuvor bietet der Film ein eindrucksvolles Doppelpsychogramm über Integrität – eine Frage, die der Kanadier Philippe Falardeau in Guibord »S’en va-t-en guerre« ebenso stimmig als Satire angeht.

Als Psychogramm funktionierte übrigens auch Elisabeth Scharangs Jack, das Porträt des Mörders Jack Unterweger (intensiv: Johannes Krisch), der in der Haft zu schreiben begann und nach seiner Entlassung zum Liebling der Wiener Society wurde. Ob er die elf Prostituiertenmorde, die ihm zur Last gelegt wurden, tasächlich begangen hat, lässt der Film offen – was vielleicht eine vertane Chance ist, zumal Scharang bei der Pressekonferenz erklärte, sie hätte anderthalb Jahre nur recherchiert und kenne den Fall wohl besser als seine damaligen Anwälte.

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