Kritik zu Wir beide

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Ein spätes Coming-out: Barbara Sukowa und Martine Chevalier spielen ein Frauenpaar, das endlich seine Liebe öffentlich machen will, als ein Schicksalsschlag dazwischenkommt

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Der Plan der beiden Frauen ist so schön und klar, wie sie selbst wirken: Madeleine verkauft ihr Appartement und zieht gemeinsam mit Nina nach Rom. Denn in dieser Stadt lernten sie sich vor Jahrzehnten kennen und lieben. Madeleine war jedoch verheiratet und wahrte nach außen den Schein der Ehe, während Nina die Wohnung nebenan bezog und fortan als Nachbarin und Freundin auftrat. Nun aber sind die beiden Frauen über siebzig, Madeleines Mann ist verstorben, und es soll keine Rolle mehr spielen, was die Leute denken. Madeleine (Martine Chevallier) will sich ihren Kindern offenbaren und dann mit Nina (Barbara Sukowa) fortgehen.

Ein Schicksalsschlag verhindert jedoch den finalen Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben ohne Versteckspiele: Eines Morgens findet Nina ihre Geliebte regungslos in deren Küche. Madeleine hat einen Schlaganfall erlitten, in dessen Folge nun andere Menschen über sie verfügen: die Tochter, die Ärzte, eine Pflegerin. Den Wechsel von größter Nähe zu völliger Distanz – denn Nina findet sich plötzlich ausgeschlossen aus Madeleines Leben –, bildet die Kamera von Aurélien Marra in der Änderung der Blickweiten ab. Zuerst werden die zwei Frauen beim Tanzen, Kochen oder einfach beim absichtslosen Miteinander einander völlig zugewandt gezeigt in hoch intimen Aufnahmen, quasi als Einheit. Die schwerkranke, von anderen abhängige Madeleine – und mit ihr die alarmierte Nina – werden indes immer wieder von außen angesehen und dabei in ihrer privaten Umgebung zugleich als ganz individuelle Charaktere porträtiert: Madeleine ist eine stille, zaghafte Frau, deren Wohnung auf die Geschichte ihrer Familie, aber auch die Bürde familiärer Bindungen verweist, während die energische Kämpferin Nina immer wieder aus ihrer provisorischen Nichteinrichtung heraustritt, um gegen den Widerstand der Umwelt zur Freundin durchzudringen. Der Etagenflur zwischen den Wohnungen der beiden Frauen dient dabei als zentraler Raum: Er markiert die Verbindung zwischen ihnen, aber auch die Entfernung, die immer wieder zurückgelegt werden muss.

»Wir beide« baut zwei wunderbaren Schauspielerinnen eine Bühne, deren Figuren gegen ein Lebensgeheimnis antreten, wenn sie darum ringen, ihre wahre Identität preiszugeben. Doch Regisseur Filippo Meneghetti reflektiert nicht einfach nur über die falschen Annahmen, die man vielleicht hegt über andere Menschen – er hat auch einen Film über Blicke inszeniert, Blicke durch halb geöffnete Türen, Fenster und durch Türspione. Die großen dramatischen Momente bleiben stumm: Als anfangs bei der Begegnung mit einem Makler vor einer Wäscherei zufällig auffliegt, dass Madeleine es nicht wagte, ihrer Familie die Wahrheit über sich und Nina mitzuteilen, hört man einzig den Lärm der Waschtrommeln, nicht aber das eigentliche Gespräch. Und wenn Nina Madeleine nach dem Anfall findet, sieht man die kranke Frau nicht, wohl aber die Pfanne mit dem verbrannten Fett auf dem Herd. Vor allem ist »Wir beide« eine Erzählung über eine große Liebe im Verborgenen.

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