Kritik zu Sonne

© Neue Visionen Filmverleih

2022
Original-Titel: 
Sonne
Filmstart in Deutschland: 
01.12.2022
L: 
87 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Losing their religion: Die österreichische Regisseurin Kurdwin Ayub erzählt mit den Mitteln inszenierter Social Media von einem migrantisch geprägten Coming-of-Age zwischen digitaler Moderne und religiöser Tradition

Bewertung: 4
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Vieles mag in Kurdwin Ayubs Debütfilm »Sonne« auf den ersten Blick bekannt erscheinen: ihre die Digitalformate der jungen Smartphone-Heavy-User aufgreifende Inszenierung, die Geschichte eines migrantisch geprägten Coming-of-Age zwischen (digitaler) Moderne und (religiöser) Tradition. Doch ihr Blick dabei ist absolut frisch. Weder driftet »Sonne« in einen schnöden Problemfilm-Duktus ab, noch knallt Ayub die pädagogische Peitsche gegen die Generation Internet. 

Die Ambivalenzen ihres in Wien spielenden Films, jene Gegensätze zwischen Yesmins (Melina Benli) streng gläubiger Mutter und ihren liberalen Freundinnen Bella (Law Wallner) und Nati (Maya Wopienka) – um es an Personen festzumachen –, manifestiert sich gleich in der ersten Szene. Da tanzen und albern die drei Abiturientinnen im TikTok-Modus vor dem Smartphone und inszenieren in der Gebetskleidung von Yesmins Mutter ihre eigene Version von R.E.M's Evergreen »Losing My Religion«. Spätestens als das Video viral geht, stellen sich Fragen wie: Ist das ein Akt mutiger Emanzipation oder blanker Hohn? Oder vielleicht sogar kulturelle Aneignung, weil Yesmin die einzige Kurdin unter den Dreien ist und im Alltag auch Kopftuch trägt?

Die Klassenkameradinnen sind fasziniert, Yesmins überfürsorgliche Mama empört und Papa Omar (Omar Ayub) – die beiden werden von den Eltern der Regisseurin gespielt – stolz. Der ist ohnehin verrückt nach seiner Tochter und gibt so etwas wie den Manager der kleinen Tour, die das Trio hinlegt. Sie singen auf einer kurdischen Hochzeit oder in einem islamischen Zentrum vor Muslima. Einmal sind sie in einer Talkshow zu Gast, in der Nati sich in den Vordergrund spielt und erzählt, sie wollten jungen Mädchen mit Kopftuch als Inspiration dienen. 

Mit flippiger Inszenierung zwischen Smartphone-Hochformat, YouTube-­Ansichten, Messenger-Chats und dokumentarischer Nüchternheit erzählt Ayub von unterschiedlichen Bewegungen. Während Yesmin immer ruhiger wird, sich von ihren Freundinnen und ihrer Kultur zu entfremden scheint, tauchen Bella und Nati immer weiter ein. Papa Omar gibt den Partyhengst und schmiert sich dafür auch mal Wimperntusche in den grauen Bart. Sehr zum Ärgernis seiner Frau, die ihm vorwirft, sich nicht um den Sohn zu kümmern. Der wiederum marodiert mit der Clique um die Häuser und filmt sich etwa dabei, wie er ein Schwein abschlachtet. »Krass, Oida!«, um den Wiener Jugendslang aufzugreifen, der diesem Film auch sprachlich eine eigene Qualität gibt. 

Nationalismus, Heimatlosigkeit, Feminismus, (digitale) Identität: Es sind komplexe Themen, an denen sich Ayub in ihrem auf der Berlinale in der Encounters-Sektion als bester Erstling ausgezeichneten Film ab­arbeitet. Doch gelingt es der 1990 im Irak geborenen kurdisch-österreichischen Regisseurin, ihrem Film eine Leichtigkeit zu geben, ohne trivial zu werden. Mit empathischem Blick und großer Selbstverständlichkeit für migrantische Milieus entwirft sie ein flirrendes Porträt. Gegen Ende tanzt die Sonne zwischen Yesmins Fingern.

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