Kritik zu Return to Dust

© Trigon-Film

2022
Original-Titel: 
Yin ru chen yan
Filmstart in Deutschland: 
02.03.2023
Sch: 
L: 
131 Min
FSK: 
6

Als Li Ruijuns Film im letzten Jahr auf der Berlinale lief, hatte der chinesischen Zensurbehörde nur das Drehbuch vorgelegen. Der fertige Film jedoch zog den Argwohn der Zensoren auf sich, wurde verändert und schließlich verboten. Was ist so schwefelhaft an diesem einfühlsamen Drama über zwei Außenseiter, die in einer arrangierten Ehe ein sachtes Glück finden?

Bewertung: 4
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Ein freudloseres Hochzeitsfoto wird man in diesem Kinojahr wohl nicht zu sehen bekommen. Verstockt sitzen die Brautleute nebeneinander, ihre Blicke sind gesenkt, schüchtern weichen sie der Kamera des Fotografen aus. Auch einander schauen sie nicht an. Kein Wort kommt über ihre Lippen, während sie auf das Klicken warten. Das Lächeln, das der Fotograf von ihnen verlangt, will ihnen nicht gelingen. Man könnte sie für zwei Strafgefangene halten.

Es ist eine arrangierte Ehe, die Ma Youtie und Cao Guiying eingehen. Der Bauer ist der jüngste, der überzählige Sohn der Familie und wird von aller Welt nur »Bruder vier« gerufen. Die Braut ist körperbehindert und unfruchtbar. In den Augen ihrer Familien sind beide nur Ballast, den man sich mittels Verkupplung vom Halse schafft. Das Leben ist ohnehin schon schwer genug in dieser armen Provinz im Nordwesten Chinas. Nun müssen die zwei Fremden miteinander zurechtkommen.

Es ist eine triste, teilnahmslose Welt, in die Regisseur Li Ruijun das Publikum einstimmt. Karg sind hier nicht nur Landschaft und Lebensumstände, sondern auch die Gemüter. Der behutsam naturalistische Kamerastil stellt schlimmstenfalls ein Exerzitium in cinema miserabilis in Aussicht oder wenigstens doch ein Beispiel spröden Verrichtungskinos. Allmählich jedoch ist zu spüren, dass die Kamera Freude an diesen alltäglichen Verrichtungen hat. Sie weiß das von ihren Familien verstoßene Bauernpaar bei der Feld- und Hofarbeit in ihrem Element. Mit wunderbarer Geduld schaut sie zu, was sie mit ihrer Hände Arbeit schaffen. Dass die Aussaat des Getreides im Herbst eine reiche Ernte bringt, zeigt sie als ein kleines, banales Wunder. Youtie respektiert den Erdboden, für ihn ist er die Grundlage des Daseins. »Jeder hat sein Schicksal«, erklärt er einmal zu Guiying, »auch der Weizen hat seine Bestimmung.« Noch etwas anderes entsteht derweil in mühevoller Handarbeit: ein eigenes Haus. Die zwei verlieren kein Wort darüber, aber es ist klar, dass in diesem Heim auch ein Projekt der Selbstbestimmung langsam Gestalt annimmt.

Youtie entdeckt bald, dass Guiying geschickte Hände hat. Sie flicht aus Ähren eine Figur, die seinen geliebten Esel darstellt. Während er mit dem Element Erde verbunden wird, assoziiert der Film sie mit dem Licht. Eines Abends installiert sie eine Lampe in einem Pappkarton, in dessen Wände er kleine Löcher gestochen hat. Nun illuminiert sie den Raum wie eine magische Laterne. Später erfährt man, dass der Karton als Brutkasten für Küken dienen soll. So ist das in diesem Film: Er findet Poesie im Nützlichen.

Als Guiying ihrem Mann nach wenigen Filmminuten abends im Wortsinne heimleuchtete, spürte man bereits, dass es gut wird zwischen ihnen. Nun können sie sich gestehen, dass ihre anfängliche Verstocktheit nur Verlegenheit war. Die neue Situation schüchterte sie ein. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Guiying mitangesehen, wie Youtie den Esel tröstete, den sein Bruder zuvor geprügelt hatte. Da dachte sie: Dieser Esel hat es besser als ich. Und wusste, dass sie ihn getrost heiraten konnte. Es liegt längst keine Ironie mehr darin, als später eine Wanddekoration in ihrem neuen Wohnzimmer anbringt, die »Eheglück« bedeutet. Welche Rolle die Erotik bei ihrer Annäherung spielt, verrät der Film nicht. Er muss es nicht; die Zartheit, die sich in ihren Alltag schleicht, ist sinnlich genug.

Die Tugenden, die Li Ruijun in seinem Film wahrlich zum Funkeln bringt, sind Anstand, Bescheidenheit, Fleiß und Fürsorge. Sie müssten eigentlich auch dem chinesischen Regime behagen. Aber der Regisseur stellt sie in ein Ambiente, in dem Missgunst, Korruption und Bevormundung den Ton angeben. Niemand zögert, Youtie zu übervorteilen, weder die Verwandtschaft, die Nachbarn noch das Dorfkomitee. Er muss Blut spenden für einen hochstehenden Funktionär, der die Gemeinschaft fortwährend betrügt. Dass Youtie nur einen Eselskarren besitzt, sein dubioser Neffe aber gleich zwei BMW, ist ein prägnantes Bild für die schreiende soziale Ungleichheit. Die Regierung verspricht den Dorfbewohnern, ihre Situation zu verbessern. Aber die einzige Maßnahme besteht darin, leerstehende Häuser abzureißen. Ein lukratives Geschäft für Profiteure, an denen es in der Provinz nicht mangelt.

Die Zensur verordnete dem Film zunächst ein versöhnlicheres, ungelenk angefügtes Ende und verschob dann den Veröffentlichungstermin vom Winter auf den Sommer. An den Kinokassen und auf ­Streamingplattformen erwies Li Ruijuns Film sich jedoch als immenser Erfolg – bis die Behörden im vergangenen September seine Vorführung untersagten. Eine Begründung wurde dafür nicht genannt. 

Die staatliche Willkür findet im Film ihr Gegenstück. Mit einem Mal soll das Paar in eine Wohnung in der Stadt umziehen. Es klingt wie ein Angebot, ist aber eine Verfügung. Nur was soll ein Bauer in der Stadt, wohin soll er mit seinem Esel, dem Schwein und den Hühnern, an denen er so hängt? Am Ende schaut der entwurzelte Youtie noch einmal auf das Hochzeitsfoto. Es wird, ein unverhoffter Kulturschock in diesem zutiefst ländlichen Film, digital bearbeitet. Es ist das einzige, das es von Guiying und ihm gibt.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt