Kritik zu Neandertal

© Farbfilm Verleih

2006
Original-Titel: 
Neandertal
Filmstart in Deutschland: 
22.04.2008
Heimkinostart: 
05.02.2009
L: 
107 Min
FSK: 
16

Ingo Haeb, Titelheld von »Sie haben Knut« und Autor von »Am Tag als Bobby Ewing starb«, hat sich für die Verfilmung seines Drehbuchs über einen Jungen mit Neurodermitis mit Jan-Christoph Glaser (»Detroit«) zusammengetan

Bewertung: 4
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Mit einem Kafka-Zitat beginnen Ingo Haeb und Jan-Christoph Glaser ihren Film – ein ehrgeiziger, aber kein vermessener Anfang. Die Verbindung von Horror und monströser Komik, wie sie Kafkas Werk durchzieht, kennzeichnet auch »Neandertal«, zudem sind die inhaltlichen Parallelen, ein unheimlich dominanter Vater oder der grotesk verwandelte Held, nicht zu übersehen.

Als Guido (Jacob Matschenz) zu Beginn des Films erwacht, sieht er wie ein Zombie aus. Die aufgeweckte Stimme des Jungen mag so gar nicht zu diesem bleichen, von blutigen Wunden und Schorf gezeichneten Gesicht passen. Guido leidet unter Neurodermitis, »die Krankheit derer, die ein Problem haben, sich abzugrenzen«, wie Ingo Haeb sagt. Er spricht aus Erfahrung – in seinem Drehbuch hat er auch Bruchstücke seiner eigenen Lebensgeschichte aufgeschrieben.

Diese Verbindung, Haebs Nähe zum Erzählten und Glasers professionelle Distanz, ist vermutlich ein Grund, warum »Neandertal« so stimmig geworden ist. Guidos Neurodermitis wird zur eindringlichen Metapher für die Häutungen, das Schuppen und Verpuppen des Erwachsenwerdens. Dabei verblüfft die kompromisslose Wahrhaftigkeit, mit der der Film seine Figuren und ihre Konflikte schildert: das Machtgefüge in Guidos Familie, Guidos widersprüchliche Gefühle gegenüber seinen Eltern, schließlich die ambivalente, bis zum Schluss unergründliche Figur des Rudi (Andreas Schmidt), der sich an keine Regeln hält und Guido damit mächtig imponiert.

Die beiden Regisseure finden eindringliche Bilder für Guidos Gefühlswelten: Bilder, die roh und wund und brennend sein können wie Guidos Haut, die immer wieder ins Surreale gleiten, manchmal einem Horrorfilm entnommen sein könnten. Als ob sich das Innere einer Person, einer Familie und einer Gesellschaft nach außen kehrte und unter der aufgeräumt glatten Oberfläche das Atavistisch-Wilde und die Verletzungen sichtbar würden. Dazu passt der harte Sound, für den Jakob Ilja, Komponist und Gitarrist von Element of Crime, verantwortlich zeichnet.

Starke Darsteller hat dieses gelungene Debüt außerdem: Andreas Schmidt darf endlich wieder so abgründig sein wie in »Pigs will fly« von Eoin Moore. Johanna Gastdorf und Falk Rockstroh spielen das Elternpaar: er das Alphatier, von dem nie klar wird, wie viel Gefühl er hinter seinen zynischen Sprüchen verbirgt, sie die überangepasste Hausfrau, die aus der Schwäche heraus subtile Formen der Erpressung findet. Im Zentrum des Familienkäfigs: Jacob Matschenz, der immer wieder sensible Darstellungen von gefährdeten Jugendlichen gegeben hat, in »Das Lächeln der Tiefseefische« von Till Endemann (2005) oder »Rose« von Alain Gsponer (2005), und dem auch die Verkörperung von Guido bewegend gelingt. Die knochige Härte in seinen Zügen wehrt allzu viel Mitleid oder eine leichtfertige Identifikation mit dem Helden erfolgreich ab.

Der Film spielt im Neandertal östlich von Düsseldorf, und für Guido, den Freak, ist das eine Zeit lang sein Ziel: ein ganz normaler Neandertaler zu sein.

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