Kritik zu Music

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Ödipus singt jetzt in Berlin: Angela Schanelecs »Music« ist eine faszinierende Variation über den Mythos. Auf der Berlinale in diesem Jahr erhielt »Music« den Silbernen Bären für das beste Drehbuch

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Man sollte ausgeschlafen sein, um diesen Film zu sehen, das Kino von Angela Schanelec ist – zumindest an der Oberfläche – so spannungsarm, dass mancher schnell wegdöst. Außerdem gibt es so viele Anspielungen vor allem auf antike Mythen in »Music«, dass man schon genau hinsehen muss. Bei der Berlinale bekam Angela Schanelec für »Music« in diesem Jahr den Silbernen Bären für das beste Drehbuch, womit Originalität und Subtilität eines Films ausgezeichnet wurden, der in vieler Hinsicht quer (nein, nicht queer) zu den Tendenzen im zeitgenössischen Film steht.

Schanelecs Kino ist eines der Auslassungen, der kunstvollen Ellipsen. In »Music« geht das so weit, dass man der Erzählung gerade noch folgen kann. Sie ist am Ödipus-Mythos angelehnt, der Geschichte eines jungen Mannes, der von Pflegeeltern aufgezogen wurde und als Erwachsener unwissentlich seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet. Trotz der »Vorlage« ist der Film aber eine Reise ins Unbekannte.

Auch Jon wird adoptiert, ohne seine Eltern zu kennen, mit der Nacht seiner Geburt beginnt der Film, in den griechischen Bergen, wo Nebel aufzieht. Das Bild, eine Totale fast wie in den Filmessays von James Benning, bleibt minutenlang stehen, bis ein Donnerschlag oder das Geräusch eines Unfalls die Stille zerreißt. Ein Mann und eine Frau auf seinem Arm sind zu sehen, dann zwei Rettungswagen, einer liest ein blutverschmiertes Baby in einer Hütte auf. In der nächsten Sequenz kühlt und säubert eine junge Frau die mit Wunden übersäten Knöchel des Säuglings.

Ein Schnitt überbrückt fast zwanzig Jahre, Jon (Aliocha Schneider) ist nur an den Wunden an seinen Füßen wiederzuerkennen – Ödipus bedeutet auf Griechisch Schwellfuß. Mit Freunden ist Jon zum Schwimmen gefahren, eine Landpartie, sommerlich leicht, wenn die Figuren nur sprechen oder sich »normal« benehmen würden. Aber Worte sind rar in diesem Film, ebenso wie Natürlichkeit suggerierendes Verhalten. Schon in früheren Filmen, »Mein langsames Leben« (2001), »Orly« (2010) oder »Ich war zuhause, aber...« (2019) hat Angela Schanelec ihre Figuren theaterhaft agieren lassen – und durch die Künstlichkeit nach Wahrhaftigkeit gestrebt. In »Music« tragen die Figuren in einigen Szenen hohe Holzschuhe, die an die Kothurne des antiken Schauspiels erinnern.

Jon tötet (wie Ödipus) einen Unbekannten und kommt dafür ins Gefängnis. Dort lernt er die Aufseherin Iro (Agathe Bonitzer) kennen, die seine wunden Füße badet und für ihn Musik auf einem altmodischen Kassettenrekorder aufnimmt. An einer Gefängniswand hängt eine handgeschriebene Liste: Monteverdi, Bach, Vivaldi, Pergolesi, Purcell, Scarlatti, Händel – Barockmusik. Die Tonspur, vor allem da, wo Musik zu hören ist, ist im Film eine dem Bild ebenbürtige »Erzähl«-Ebene, vermittelt – formal hochdiszipliniert – heftige Gefühle. »Ich scheue die Musik, weil sie schnell überwältigt, deswegen zieht sie mich an, wie jeden anderen auch, und deswegen bin ich vorsichtig... Jetzt gab es durch den Schmerz einen Grund, eine Notwendigkeit für die Musik«, hat Angela Schanelec erklärt.

»Music« ist eine Erzählung vom Ausgeliefertsein an den Zufall, von Schmerz – und Weiterleben. Schanelec selbst hat den Tod ihres Ehemanns, des Theaterregisseurs Jürgen Gosch, erlebt und spricht im Interview davon, wie sehr sie dessen Inszenierung des »Ödipus« von Sophokles in der Hölderlin-Übertragung beeindruckt hat, die »Körperlichkeit« der Inszenierung. In »Music« vermittelt sich die Körperlichkeit vor allem in Szenen, die mit oder am Wasser spielen: wenn die Pflegemutter Jon als Baby Meerwasser über die wunden Füße träufelt oder Jon und Iro sich gemeinsam Wasser über die Hände laufen lassen, als sie zusammenziehen.

Sie werden Eltern, der Besuch mit der Tochter bei Jons Pflegeeltern gehört zu den schönsten Sequenzen im Film: Die Atmosphäre ist freundlich und luftig, mit fast beiläufig wirkenden Beobachtungen eines gelingenden Familienlebens, wenn man etwa gemeinsam Granatapfelkerne aus den Früchten löst. (Granatäpfel sind ein Symbol für Leben und Fruchtbarkeit. Aber auch für den Tod.) Iro erfährt hier durch einen Zufall, wen Jon damals getötet hat, und kann mit dieser Erkenntnis nicht umgehen.

»Music« springt danach völlig unvermittelt nach Berlin, wo Jon als Sänger arbeitet. Die Wucht des Schicksals, das Ödipus erlitten hat, wird ihm (zumindest teilweise) erspart, obwohl er am Ende blind ist, macht er keinen verzweifelten Eindruck. Der Film hält viel in der Schwebe, steuert auf kein Ziel zu, ist so »offen« in seinen Angeboten und Andeutungen, dass es manchmal beliebig wirkt (auch wenn er das in keinem Moment ist). Die Bilder nehmen oft Banales, scheinbar Nebensächliches in den Blick, wodurch auch sie sich öffnen: für das, was jenseits der Bildgrenzen und Schnitte liegt, und für den Zufall. Einmal krabbelt eine Eidechse auf Iros Fuß, das lässt sich ebenso wenig planen und kontrollieren wie so vieles im Leben.

Alles ist im Fluss, und an einem Fluss endet der Film auch, mit einer parallel mitfließenden Kamerafahrt, die aus der Entfernung (Nahaufnahmen wären undenkbar) Jon, seine Tochter und Freunde begleitet. Sie singen, tanzend spazierend. »Ich finde den Gedanken, dass es die Möglichkeit gibt, zu überleben, also dass es uns gelingen kann, unser Leben oder Schicksal zu ertragen, sehr, wie soll ich sagen, das ist ein fantastischer Gedanke«, sagt Angela Schanelec. »Jon entwickelt ein Vermögen, seinem Schicksal zu begegnen, und das ist der Gesang, er singt.« Es ist vermutlich die Kunst an sich, die künstlerische Verwandlung von Affekten und Begegnungen, für die seine »Music« steht.

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