Kritik zu Julie – Eine Frau gibt nicht auf

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Immersiver Stress: Dieses französische Sozialdrama beschreibt minutiös eine Woche im Leben einer alleinerziehenden, arbeitenden Mutter, die durch den Streik der Verkehrsbetriebe bis fast zum Äußersten getrieben wird

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Die öffentlichen Verkehrsbetriebe traten in Paris im Dezember 2019 in Streik. Das folgende Verkehrschaos liefert die Rahmenhandlung für dieses Sozialdrama, in dem mit der Präzision eines Uhrwerks der albtraumhafte Alltag einer alleinerziehenden Mutter während dieser Streikwoche geschildert wird. Julie gehört zu jenen Tausenden Pendlern, die, von sehr weit her, in die Metropole müssen. Minutiös wird gezeigt, wie sie zu nachtschlafener Zeit ihre beiden Kinder weckt und versorgt, sie bei einer genervten älteren Frau abliefert, die jenseits der Schulstunden auf sie aufpasst. Und dann abwechselnd rennt und verzweifelt auf Bahnsteigen herumsteht, die Anzeigetafeln beobachtet, wie viele andere mit ihr. Auf ihrer Arbeitsstelle als Teamleiterin von Zimmermädchen in einem Luxushotel geht der Kampf gegen die Uhr weiter. Ein weiteres Problem bahnt sich an: Julie will heimlich zu einem Vorstellungsgespräch. Zwischendurch ruft die Bank an, weil sie vollkommen pleite ist, versucht sie ihrerseits, ihren Ex-Mann zum Zahlen des Unterhalts zu bewegen.

Der Beatles-Song »Lady Madonna« über eine Mutter, bei der es an allen Ecken brennt, kommt einem in den Sinn, wenn Julie beim Multitasking stündlich mehr in die Bredouille gerät. Ihr Alltag ist Balanceakt, geprägt von permanentem Improvisieren. Wenn sie nicht arbeitet und Zügen hinterherrennt, ist sie mit Bitten, Flehen, Schmeicheln oder Drohen beschäftigt. Bald muss sie abends trampen, gar in Absteigen übernachten. Und natürlich muss sie beim Vorstellungsgespräch lügen, die ausgeruhte Mutter spielen, die nach vier Jahren Kinderpause ihre Karriere als Marketingmanagerin fortsetzen will. Immer lächeln! Doch als die Stricke ihres brüchigen Sicherheitsnetzes reißen und die Babysitterin das Wort »Jugendamt« in den Raum wirft, scheint Julie zu kapitulieren. Julies Weltuntergangsstimmung wird durch die apokalyptische Stimmung dieser Streiktage, in denen Menschenmassen im Dunkeln auf kalten Bahnhöfen herumgeschoben werden, Rauchwolken am Horizont stehen und aufgeregte Nachrichten flottieren, noch verstärkt. Die immersive Wirkung dieses Films ist beträchtlich.

Denn er zeigt neben den handfesten Problemen der Alltagsbewältigung auch den Stress auf, den arbeitende Mütter beim Wahren der Fassade haben. Doch dies ist kein Film über ein Nur-Opfer: Julie – Laure Calamy ist als ebenso starke wie verletzliche Heldin hinreißend – ist eine zielstrebige Frau, die sich nicht mit ihrem prekären Status bescheiden will. Sie nutzt die Hilfsbereitschaft anderer bis zum Äußersten aus und zieht ihrerseits durch ihre Tricksereien andere ins Unglück. Eine Kriegerin des Bürgertums, beharrt sie auf ihrem Recht, ihre Kinder weit weg von der Großstadt in einem Haus im Grünen statt im Hochhaus im verrufenen Vorort aufzuziehen, weshalb sie auch angefeindet wird. Die Frage, ob die Kombination aus Kindern und Karriere erstrebenswert ist, stellt sich hier erst gar nicht: Dass ihr Ex-Mann sie vollkommen hängen lässt, zeigt, dass Julie keine andere Wahl hat. Dieses anschauliche Drama über die sonst unsichtbaren Herausforderungen eines Frauenlebens ersetzt viele schlaue Bücher.

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