Kritik zu Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich

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Der Schweizer Künstler wurde als »Sprayer von Zürich« bekannt. Seine Strichmännchen waren umkämpft: Kunst oder Vandalismus? Nathalie Davids Dokumentarfilm beleuchtet nicht nur Naegelis Leben, sondern auch die Street-Art-Debatte

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»Viele Grüße, Ihr Utopist H.N.«, so unterschrieb Harald Naegeli eine im Film vorgelesene E-Mail an Regisseurin Nathalie David. Auf den Bildern dazu sind gezeichnete Totenköpfe und schwarze Striche und Balken zu sehen. Im Stiegenhaus des Zürcher Grossmünsters hat der Künstler stilisierte Skelette an die ehrwürdigen Gemäuer gesprüht. Lange hat er mit der Verwaltung um die Genehmigung für dieses Projekt gerungen, dann aber eigenmächtig den Rahmen des Vereinbarten überschritten. Für den anschließeden Ärger der Amtsträger hat der selbst- und sendungsbewusste Künstler kein Verständnis, wie aus seinen Statements und als Text eingeblendeten Zitaten aus anderen E-Mails deutlich wird.

Harald Naegeli wurde ab Ende der 1970er Jahre mit seinen an Zürcher Straßen gesprayten Strichfiguren und den Verfolgungen durch die Justiz zu einer umstrittenen, von vielen Künstlern und Intellektuellen als Vertreter künstlerischer Freiheit und Rebellion verteidigten öffentlichen Person. Nach sechs Monaten Haft in der Schweiz ging er für Jahrzehnte nach Düsseldorf ins Exil, wie er es nennt. Strafbefehle bekam er auch dort. Heute ist der Pionier der Street Art über achtzig Jahre alt und krank, weshalb er zuerst auch gar nicht für das Porträt der Hamburger Dokumentarfilmerin Nathalie David zur Verfügung stehen wollte. Doch dann ließ er sich zu einem Gespräch vor der Kamera überreden, aus dem im Lauf der Zeit viel mehr wurde. 

David besucht den Künstler in der Zürcher Heimat, in die er für seine späten Jahre zurückkehrte; bis heute spaltet er mit neuen Sprühereien die Stadt. Schließlich steckt in den – von ihm als dauerhaft gedachten – Eingriffen in den städtischen Raum auch viel Anmaßung. Eine der Konfliktlinien verläuft dabei zwischen dem Kanton Zürich (contra) und der Stadt, die ihn 2020 sogar mit ihrem Kunstpreis auszeichnete. Und wer bisher von Naegelis Arbeit nur die eher grob stilisierten und typisierten Sprühfiguren kannte, dürfte im Film auch staunen, welche künstlerische Vielfalt und Finesse er als Zeichner oder bei den raffinierten Cut-ups seiner Papierarbeiten zeigt. 

Regisseurin David hält sich mit Wertungen jeder Art wohltuend zurück, so dass ihr Film eine über die Causa Naegeli hinaus anregende Studie zu den Widersprüchlichkeiten vieler bis heute immer wieder ausgehandelter Konflikte um die Macht über den öffentlichen Raum ist. Außerdem lässt sich aus heutiger Sicht an dem heute auch unter dem Namen Harry Wolke bloggenden, seine Werke verschenkenden »Utopisten« (der als Privatier aus einer vermögenden Familie stammt) auch gut über die Beziehung von anarchistischer Rebellion und Wutbürgertum reflektieren, wenn Naegeli Staatsorgane und Justiz als Wanzen zeichnet oder seinem Hass auf die Presse verbal Lauf lässt. Unbedingt erwähnt werden muss noch die kitsch- und klischeefreie Musik von Andrina Bollinger. Schade nur, dass Naegeli zwar viel Einleuchtendes zu seinen Totentanz-Motiven erklärt, aber die ähnlich dominante Präsenz von Weiblichkeitssymbolik gar nicht thematisiert wird.

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