Kritik zu Europe, She Loves
Hausbesuch an den Rändern Europas: Der Schweizer Dokumentarist Jan Gassmann (»Chrigu«) filmt den Alltag von Paaren in vier Städten. Er kommt seinen Protagonisten sehr nahe und zeichnet fast ein gesamteuropäisches Generationenporträt
Europa im Herbst. Es sind fürwahr keine guten Nachrichten, die Radio und Fernsehen verbreiten. Man kann sie verfolgen wie die Fieberkurve eines Patienten, dessen Zustand Anlass zu größter Sorge bietet. Fast möchte man ihn schon aufgeben. Zukunftsangst scheint das Einzige zu sein, was die Bürger der Europäischen Gemeinschaft verbindet. In Irland macht man sich besonders viel Gedanken über die Zustände in Griechenland, das Radiokommentatoren vom Bürgerkrieg bedroht sehen: »When Greece falls, there's no hope for Europe.«
Solche Nachrichtenfetzen sind den Bildern unterlegt, mit denen der schweizerische Dokumentarfilmer Jan Gassmann den Alltag von Paaren in vier europäischen Städten schildert. Seine Figuren nehmen sie kaum zur Kenntnis. Ihre Geschichten beglaubigen den Tenor der Nachrichten, illustrieren ihn aber nicht. Die Tonmontage ist die einzige direkte Verbindung zwischen ihrem Leben und der Politik, die der Film knüpft. Das Wirken politischer Gestaltungskräfte scheint abgelöst von ihrem Alltag; an ihre Stelle ist die ökonomische Krise getreten.
Die Randlage der Drehorte (Tallinn, Sevilla, Dublin, Thessaloniki) ist nicht nur eine geografische, sondern auch eine soziale Kategorie. Gassmann zeigt, wie beispielsweise die Irin Siobhan bei einer karitativen Einrichtung um Lebensmittel anstehen muss und wie der Grieche Nikolas im Supermarkt Katzenfutter stiehlt. Er entwirft kein Panorama, sondern montiert mit großer Liebe zur Symmetrie dokumentarische Kammerspiele. Ob die Figuren sich selbst als Europäer begreifen, bleibt eine kluge Leerstelle. Sie stehen für sich ein, sprechen nicht für die Kamera, sondern lassen es zu, dass sie an ihrem Alltag teilnimmt. Dabei entsteht eine außerordentliche Intimität. Der Pakt der Unbefangenheit, den Kamera und Protagonisten geschlossen haben, erstreckt sich auch auf die Darstellung ihres innigen, reizvollen Sexuallebens.
Der Film kreist ausschließlich um zwei Lebensbereiche: die Paarbeziehungen und die Arbeit (bzw. die Suche nach ihr). Gassmann filmt seine Protagonisten als achtsamer Porträtist. Es ist Bewegung in den Beziehungen; unsere Wahrnehmung der Figuren wandelt sich dabei. Veronika und Harri arbeiten in Tallinn mit am Gelingen des Patchworkmodells. Caro in Sevilla und Penny in Thessaloniki träumen von einem besseren Leben im Anderswo. Als Versprechen funktioniert die europäische Nachbarschaft noch.
Siobhan wiederum glaubt fest daran, dass das Zusammensein dem Rest des Lebens seine Härte nimmt. Dafür nimmt sie sogar Terrys Heroinsucht in Kauf, die auch sie angesteckt hat. Die Liebe als Fallschirm in einem Absturzmilieu? Das könnte sogar gelingen. Wie zugetan die Paare einander sind, fängt Gassmann mit sichtbarer Genugtuung ein. Er ist fasziniert von den Zärtlichkeiten, die sie ihrer Lage abtrotzen und verschließt seine Augen nicht vor der Anwesenheit des Glücks: ein Dokumentarfilm, der sich entschieden hat, die Liebe nicht allein der Fiktion zu überlassen.
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