Kritik zu Die Bologna-Entführung

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Marco Bellocchio rekonstruiert in seinem 25. Film ein dunkles Kapitel Kirchengeschichte: den Fall eines Kindesentzugs nach vatikanischem Recht. An der dramatischen Geschichte aus dem 19. Jahrhundert haben sich bereits Steven Spielberg und Julian Schnabel versucht

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Edgardo Mortara führte ein langes Leben. Es reichte weit in das Jahrhundert hinein, das jenem folgte, in dessen Mitte er geboren worden war. Obwohl er mit 21 Jahren dafür viel zu jung war, wurde er auf Geheiß von Papst Pius IX. zum Priester geweiht. Die Aufgabe, der er sich bald widmete, war die Missionierung von Juden. Er erwarb sich solche Meriten darin, dass ihn der Vatikan bis nach New York sandte.

Es war nicht das Leben, das seine Eltern sich für ihn erhofft hatten. Vielmehr hätte Edgardo, ebenso wie sie, ein angesehenes Mitglied der jüdischen Gemeinde Bolognas werden können. Der Junge selbst war noch zu klein, um sich Gedanken über seinen späteren Werdegang zu machen. Mit gerade einmal sechs Jahren wurde er seines Schicksals beraubt. Er war eines von zahlreichen jüdischen Kindern, die im Namen des Papstes aus der Obhut ihrer Eltern gerissen wurden. 

Sein Fall trug sich 1858 zu, als Bologna noch zum Kirchenstaat gehörte. Der örtliche Inquisitor erfuhr, dass ein Dienstmädchen im Hause der Händlerfamilie Mortara vor Jahren eine heimliche Nottaufe an dem Säugling vollzogen hatte, den sie für sterbenskrank hielt. Nach kirchlichem Recht musste das Kind den Eltern entzogen werden. Diesen infamen Eingriff in die Privatsphäre inszeniert Marco Bellocchio voller Wut, aber in beherrscht klassischer Form. Nie lässt er Zweifel aufkommen, dass die »legale«, überdies angekündigte Entführung – der Familie bleiben 24 Stunden, um sich auf die Situation einzustellen, in der Nacht wachen Polizisten vor dem Ehebett der Eltern –, eine Barbarei ist.   

Die Mortaros werden über den Verbleib ihres Sohnes zunächst belogen, erfahren dann, dass er in einer Katechumenenschule in Rom untergebracht ist. In dieser anderen Welt, in der es keine Mütter gibt, findet der stille Junge einen Kameraden, der sich auskennt. Er assimiliert sich, lernt Latein, spricht aber das Nachtgebet insgeheim noch auf Hebräisch. Die Gehirnwäsche, der er unterzogen wird, ist unfassbar – wenn Gläubige im Kino abschwören sollen, dann sind es stets Erwachsene (wie in »Silence« von Martin Scorsese). Während es den Eltern gelingt, die Öffentlichkeit auf ihre Seite zu bringen, und sich weltweiter Protest gegen den »Entführerpapst« regt, wird Edgardo erneut getauft, für alle Fälle. Vom Becken aus wandert sein Blick zu einem Bild der Taufe Christi. Fortan ist er fasziniert von ihm, verharrt immer wieder vor einer Statue des Gekreuzigten, den er einmal im Traum zum Leben erweckt, indem er seine Nägel löst.   

Das Drehbuch, das Bellocchio mit Susanna Nichiarelli geschrieben hat, ist eine sorgfältig ausgearbeitete Anklageschrift. Es behauptet indes nie, vollends ergründen zu können, was in dem Entführten vorgeht. Auf die Besuche der Eltern reagiert der Junge unterschiedlich, verabschiedet sich gefasst vom Vater und verzweifelt von der Mutter. Der Versuch einer Gegenentführung scheitert; als die Truppen Garibaldis Rom befreien, weigert Edgardo sich, zu seiner Familie zurückzukehren. Echte Glaubensfreude ist ihm nicht anzumerken.

Bellocchios Blick bleibt konzentriert, obwohl er die Aufmerksamkeit des Publikums aufteilt. Den Anstrengungen der Eltern gibt er ebenso viel Raum wie der Verwandlung des Jungen. Der versteinerte Pius IX. erlebt Momente der Anfechtung, die Bellocchio in zwei springteufelnden Animationssequenzen zeigt. Unerbittlich führt die Montage die Welt außer- und innerhalb der Schule parallel, wechselt anfangs zwischen einer Messe und dem Sabbat, der erstmals ohne Edgardo eröffnet wird. Einmal sucht er Schutz in den Rockschößen des Pontifex – gerade so, wie er es anfangs bei der Mutter tat. Seine Heimatlosigkeit ist entsetzlich.

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