Kritik zu Dibbuk – Eine Hochzeit in Polen

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Der polnische Regisseur Marcin Wrona greift in seinem »revisionistischen Horrorfilm« die alte jüdische Legende vom Dibbuk auf und macht daraus eine Parabel über Polens Umgang mit dem Holocaust

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Der Wind weht die Schreie einer Frau über den See. Sie begleiten Piotr während der ganzen Überfahrt zu der kleinen Insel, die von nun an seine Heimat sein wird. Erst als die Fähre ihr Ziel schon fast erreicht hat, sieht er die Frau, die durch den See watet und von Sanitätern verfolgt wird. Sie ist ganz und gar außer sich, eine Entfesselte, die vielleicht von Angst oder auch von ihren Dämonen getrieben wird. Für einen Moment begegnen sich Piotrs und ihr Blick. Ein Unbehagen bleibt zurück.

Dabei weist erst einmal nichts klar über die äußere Wirklichkeit hinaus. Regisseur Marcin Wrona (der sich kurz nach der Premiere von »Dibbuk« das Leben genommen hat) fängt die schroffe Atmosphäre des Lubliner Landes in dezidiert realistischen Bildern ein. Der Himmel ist verhangen, die Seeoberfläche ist trüb, und die dörflichen Straßen sind menschenleer. Hier bewegt sich kaum noch etwas. Selbst die riesige Baugrube, in der Piotr (Itay Tiran) zum ersten Mal persönlich auf seinen zukünftigen Schwiegervater (Andrzej Grabowski) trifft, scheint verlassen zu sein. Aber vielleicht liegt das auch nur daran, dass sich alle schon auf das große Fest der Hochzeit von Piotr und Zaneta (Agnieszka Zulewska) vorbereiten.

Die Stimmung, die Wrona hier heraufbeschwört, ist weniger festlich als bedrückend. Im realistischen Ton der Erzählung schwingt noch etwas anderes mit. Die abgeschiedene Landschaft, die von der Zeit gezeichneten Häuser – sie stehen auch für die verdrängte und vergrabene Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. Das Vergangene liegt gleich einem unsichtbaren Nebel über den Orten und Menschen und ist in jeder Einstellung des Films präsent. Mal im Schreien einer Frau wie zu Beginn, später dann in den Überresten einer Leiche, die ­Piotr im Garten des Bauernhauses entdeckt, in das er mit Zaneta nach der Hochzeit einziehen will.

Die Gegenwart wird in Marcin Wronas freier Adaption des jüdischen Schauspiels »Der Dybbuk« brüchiger und brüchiger. Das Vergangene dringt durch die Ritzen und Risse. Nach dem Leichenfund geschieht etwas mit Piotr, und während der Hochzeitsfeier zeigt sich, dass er von einem Dibbuk besessen ist. Juden leben zwar kaum noch im Lubliner Land. Ihre Straßen und Zentren sind verschwunden. Aber davon wissen Geister wie der Dibbuk der jiddischen Legenden nichts. Also klammert sich die vor mehr als 70 Jahren verstorbene Hana an Piotrs Seele und lässt sie nicht mehr los.

Eine folkloristische Schauergeschichte, die einer längst untergegangenen Kultur entsprungen ist, wird zu einem filmischen Lamento. Weniger Schrecken als Schmerz erfüllt Wronas revisionistischen Horrorfilm. Er spielt mit den Konventionen des Genres, um all der Trauer und der Wut angesichts des Holocausts Ausdruck zu verleihen. Die Erinnerungen an das frühere jüdische Leben in Polen wurden konsequent ausgelöscht. Und wenn jemand wie der alte jüdische Lehrer trotz allem während der Feier versucht, das Vergangene zum Leben zu erwecken, wird sein Leid in Beifall erstickt. Das Regime der Verdrängung ist übermächtig.

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