Kritik zu Cranko
Joachim A. Lang zeichnet in seinem »Non-Biopic« ein Porträt des legendären Choreographen John Cranko während seiner Zeit in Stuttgart
Die Tänzer*innen spiegeln sich in der Pupille des Mannes, wie in einem Kaleidoskop spreizen, klappen und falten sie sich in- und auseinander. So landet man über das Auge direkt im Kopf des Künstlers, in der Vorstellungskraft des visionären Choreographen John Cranko, der 1927 in Südafrika geboren wurde und 1973 auf dem Flug von New York nach Dublin gestorben ist.
Kaum jemand arbeitet sich heutzutage noch von der Wiege bis zur Bahre an einem Leben ab. Joachim A. Lang, der bekundet hat, dies sei kein Biopic, sondern ein Film, der die Seele des Tanzes erfassen will, grenzt Crankos Leben auf die zwölf Jahre zwischen 1961 und 1973 ein, in denen er das Stuttgarter Ballett zunächst als Gast und bald als Direktor zu internationalen Erfolgen führte, bis an die Metropolitan Opera in New York. Dabei interessieren Lang weniger die biografischen Eckpunkte, sondern das, was den Künstler ausmacht und antreibt, seine Inspirationen und das Lebensgefühl, das sie kanalisiert, vor allem wohl eine große Sehnsucht nach Liebe und Familie. Kunst und Leben durchdringen sich, immer wieder materialisieren sich die Ballettszenen jenseits der Bühne in der wirklichen Welt, die Tänzer umschwirren Cranko oder setzen sich zu ihm auf eine Parkbank, überall wo seine Gedanken zu seinen Kreationen abschweifen.
Künstler, die anecken, die gegen die Erwartungen von Geldgebern, Intendanten und Publikum rebellieren, sind das große Thema von Joachim A. Lang. Da knüpft »Cranko« auch an Motive an, die es schon im »Dreigroschenfilm« gab. Das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, der Bruch mit Sehgewohnheiten und Konventionen, darum geht es auch hier wieder; wie Brecht will sich auch Cranko dem Publikumsgeschmack nicht beugen, sondern ihn verändern. Wenn er die brasilianische Tänzerin Marcia Haydee zur Primaballerina machen möchte, dann setzt er das kompromisslos auch gegen Widerstände des Direktors Walter Erich Schäfer (Hanns Zischler) durch, der sie für zu alt und zu unscheinbar hält, zur Not auch mit der Drohung, sonst eben selbst zurückzutreten.
Nach dem »Dreigroschenfilm« als Resümee seiner jahrelangen Beschäftigung mit Brecht und dem Theater verlagert Lang seinen Blick auf Cranko und den Tanz und hat großes Glück, dass das Stuttgarter Ballett das Erbe seines Star-Choreographen auch gut 50 Jahre nach seinem Tod so lebendig hält, dass seine Inszenierungen noch immer zum Repertoire gehören. So können die weltberühmten Tänzerinnen und Tänzer aus Crankos Ensemble von den heutigen Stars des Stuttgarter Balletts verkörpert werden, allen voran Elisa Badenes als Marcia Haydée, und es dürfte ganz im Sinne von Cranko sein, dass die Tänzer damit auch zu Schauspielern werden. Den Titelhelden verkörpert Sam Riley – so berührend, wie er am Anfang seiner Karriere den Joy-Division Sänger Ian Curtis spielte, gelingt es ihm auch hier wieder, eine verstorbene Ikone glaubwürdig zum Leben zu erwecken, und das unter dem strengen Blick derer, die Cranko persönlich erlebt haben.
Kommentare
Cranko – Als Stuttgart einmal Weltklasse bewies
Der Film beeindruckt, zumal wenn man ihn als Mensch betrachtet, der in Stuttgart lebt. Gab es einstmals doch offenbar Zeiten, in welchen diese Stadt Weltklasse bewies – und nicht lediglich Mittelmaß oder gar Unterirdisches.
Gleich auf drei Ebenen darf man den Choreographen John Cranko erleben: Auf der Bühne und bei Proben, in fiktiven Ballett-Phantasien außerhalb des Opernhauses, sowie im Privaten. Das Letztere vielfach geprägt von unglücklichen Lieben und vermeintlichen Auswegen, wobei Nikotin, Alkohol bzw. noch weit härtere Drogen eine große Rolle spielen.
Was letztlich aber bleibt von Cranko, gerade auch nach seinem frühen Tod mit 45 Jahren, ist das “Stuttgarter Ballettwunder”. Lange Zeit dachte ich, der Ausdruck sei eine Art von kommunaler Eigenwerbung, bis mich der Film nun mit der Aufklärung überraschte, dass die “New York Times” Wortschöpferin war – dies im Jahre 1969 nach dem Auftritt der Cranko-Kompanie in der dortigen “Metropolitan Opera”.
Und worin bestand das Wunder? “Ich will mit Tanz sagen, was man mit Worten nicht sagen kann!”, antwortet Cranko im Film selbst. In der Rezension einer bekannten deutschen Zeitung über den Film von Joachim A. Lang las ich, das käme einer Plattitüde gleich, sei also abgedroschen. Wirklich?
Ohne ein ausgewiesener Ballett-Kenner zu sein, fällt mir die Tanzszene aus “Romeo und Julia” ein. Im Fecht-Duell tödlich getroffen hat Graf Paris bei Shakespeare nur einen Satz: “Oh, ich bin hin”, dann fällt er. Sam Riley als Cranko macht daraus mit seinen Ballett-Schülern einen furiosen Todestanz zwischen Niedersinken und Auferstehen, bis die Figur am Ende dann doch zusammenbricht. So steht das bei Shakespeare tatsächlich nicht, es ist auch keine Performance, die den Dichter-Worten tänzerisch lediglich nachempfunden wurde – es ist mehr, eben vielleicht ein Teil des Wunders.
Stellt sich schlussendlich die Frage, ob dergleichen Genie überhaupt nur rauschhaft zu verwirklichen ist, wie es Cranko damals anscheinend selber sah. Ehrlich gesagt, es ist mir ein Rätsel. Immerhin gab es andere große Künstler, die einem alkoholisierten »Zustand, in dem die Hemmungen ausgeschaltet, die Selbstkritik betäubt, die gute künstlerische Haltung in Frage gestellt wäre«, misstrauten – und für das eigene Schaffen deshalb kaum akzeptieren wollten. (Zitat Thomas Mann von 1906, indes bekanntlich ein starker Raucher) Doch wie auch immer – Cranko ist ein toller Film – und das darin mitwirkende heutige Stuttgarter Ballett präsentiert eine Meisterleistung!
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