Kritik zu 120 BPM

© Salzgeber

Die Organisation »Act Up« machte Anfang der 1990er Jahre in Frankreich mit ­spektakulären Aktionen auf die Gefahr von AIDS und die Ächtung der Opfer aufmerksam: Sie störten eine Messe in Notre-Dame und stülpten ein rosafarbenes Kondom über den Obelisken auf der Place de la Concorde. Robin Campillo setzt den Aktivisten nun ein filmisches Denkmal

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Der erste Schwule, über den Nathan in einer französischen Zeitschrift las, hieß Kenny und war Amerikaner. Die Botschaft des Artikels war niederschmetternd. Er wurde mit zwei Fotos illustriert, die Kenny und seinen Lebensgefährten zeigen. Auf dem ersten sind sie als sonniges, glückliches Paar zu sehen. Das zweite zeigt Kenny einige Zeit später. Nun ist sein Gesicht infolge der Immunschwäche AIDS entsetzlich entstellt. Er sieht wie ein Monstrum aus. Dieses Bild wurde bei einer Geburtstagsfeier aufgenommen; sein Name steht zwischen brennenden Kerzen auf eine Torte geschrieben. Der Freund ist nach wie vor an Kennys Seite. Sein Lächeln ist ganz verzagt.

Robin Campillo beglaubigt Nathans Erinnerungen, in dem er den Artikel aus »Paris Match« einblendet. Dieser Moment ist schwer zu ertragen. Der Regisseur fand die damalige Fotostrecke abscheulich, aber er will Rechenschaft ablegen von seinen eigenen Erfahrungen. Vielen Betroffenen wird es seinerzeit wie ihm ergangen sein: Die Bilder von Kenny haben sich in ihr Gedächtnis eingegraben. Aber vielleicht wäre es falsch, von einem kollektiven Gedächtnis zu sprechen. Es ist die Erinnerung vieler Einzelner, die von der Gesellschaft nicht wahrgenommen oder geächtet wurden. Campillos Film setzt einige Jahre später ein, als sich die Opfer des HIV-Virus gemeinschaftlich organisieren, um öffentliche Sichtbarkeit zu erlangen und für ihre Rechte zu streiten.

Aus einem Abstand von gut einem Vierteljahrhundert blickt Campillo auf diese Zeit zurück. »120 BPM« ist ein historisches Epos von immenser Dringlichkeit. Die Zeit drängt im Film; darauf besteht nicht nur der Erzählrythmus, den der gelernte Cutter ihm gibt. Zum Zeitpunkt der Handlung leistet die Medizin vor allem palliativen Dienst, es gibt nur wenige Medikamente, die den Krankheitsverlauf verlangsamen und teilweise gravierende Nebenwirkungen haben. Campillo und sein Koautor Philippe Mangeot engagierten sich Anfang der 90er Jahre in dem Interessenverband »Act up«, der kurz zuvor nach US-amerikanischem Vorbild gegründet worden war und im Zentrum des vielstimmigen Films steht.

Die allwöchentlichen Versammlungen in einem Pariser Hörsaal folgen strengen Regeln, in die zu Anfang einige Neuankömmlinge eingeweiht werden: Wer sich »Act up« anschließt, muss akzeptieren, dass er in der Öffentlich als HIV-positiv auftritt, auch wenn er es nicht ist; jeder Diskussionsbeitrag soll kurz gehalten und Applaus darf nur mit einem Fingerschnippen bekundet werden. Es geht turbulent zu, denn die Anliegen und Temperamente der Anwesenden divergieren heftig. Die Debatten werden lebhaft und aggressiv geführt, nicht immer gelingt es den Moderatoren, persönliche Angriffe einzudämmen. Selbstironie und Galgenhumor haben hier schönes Hausrecht. In einer späteren Versammlung tritt eine Gebärdendolmetscherin auf; niemand soll hier ausgeschlossen werden. Der Zuschauer wohnt dem Funktionieren einer repräsentativen Demokratie bei, in der für die Rechte homosexueller AIDS-Opfer ebenso gekämpft wird wie für die von Drogensüchtigen, Prostituierten und Häftlingen.

Dieser Kampf richtet sich vor allem gegen zwei mächtige Gegner. Zum einen gegen die Politik, deren Reaktion auf die Epidemie von den Aktivisten als gleichgültig, bestenfalls halbherzig gegeißelt wird. Der Skandal um Infektionen durch HIV-kontaminierte Blutkonserven aus den 80er Jahren, welcher der politischen Karriere des damaligen Premierministers Laurent Fabius keinen nennenswerten Schaden zufügte, ist den Aktivisten noch in schlimmster Erinnerung; einige von ihnen haben an dessen Folgen zu tragen. Das zweite Feindbild ist die Pharmaindustrie, die den Kranken rettende Medikamente aus wirtschaftlichem Kalkül vorenthält. Die Aktionen, mit denen »Act up« gegen sie protestiert, sind maßlos und gerecht, kindisch und gescheit, übergriffig und mitreißend. Sie sind all dies zugleich, weil sie einer gemeinschaftlichen Intelligenz und Kreativität entspringen.

Jeanne Lapoirie filmt die Aktionen eingangs mit nervöser Handkamera, sie scheut weder Hast noch blendendes Gegenlicht. Die erste, die militante Störung einer AIDS-Konferenz, erwischt den Zuschauer auf dem falschen Fuß (sie endet mit einer mutwilligen Freiheitsberaubung), was ein ziemlich gewagter Kunstgriff ist. Campillo ist nicht daran gelegen, die augenblickliche Zustimmung des Publikums zu erheischen. Bevor es Partei ergreifen kann, soll es erst mehr über die Akteure, ihre Motive und ihre Moral erfahren. Sein Film nähert sich dem Kollektiv als einem Organismus an, in dem sich Wut, Energie und Lebensfreude übertragen. Das folgt durchaus einer pädagogischen Umsicht, erinnert an »Die Klasse« (den Campillo zusammen mit Laurent Cantet geschrieben hat), wo eine spannungsvoll heterogene Gemeinschaft von Schülern prägende Erfahrungen sammelt.

Das erste Drittel von »120 BPM« wird getragen von einem einnehmenden Ensemble. Wir lernen ein gutes Dutzend Charaktere in ihrer Widersprüchlichkeit, ihren Verletzungen und ihrem Lebenswillen kennen. Auf jede Demonstration, auf jeden Trauerzug folgen Tanzszenen voll trotziger Euphorie. Campillos Montage akzentuiert dies nicht als ein Nacheinander, sondern als eine Überlagerung und Durchdringung der Gefühle. Sein Blick ist gewährend. Selbst der unnachgiebige Pharmamanager, der ein willkommener Schurke wäre, gewinnt sacht Würde darin, dass er sich wiederholt der Konfrontation aussetzt: als etwas, das er nicht begreift, aber nicht abwehren kann. Die Nonchalance, mit der »Act up« ihn kurzerhand aus einer Versammlung hinauskomplimentiert, ist allerdings sehr vergnüglich.

Später verschiebt Campillo den Fokus auf die Liebesgeschichte, die sich zwischen Sean (Nahuel Pérez Biscayart) und Nathan (Arnaud Valois) anbahnt. Der Film macht sich diese Entscheidung nicht leicht, er wird durch diese Engführung nicht konventioneller (warum sollte man Aktivismus und Liebe trennen?); seine Vielstimmigkeit erlischt nicht. Es wäre erzählerisch unredlich, bei diesem Thema nicht ein Sterben eng zu begleiten. Sean ist HIV-positiv, Nathan nicht. Campillo nimmt sich viel Zeit für die Zwei, die er achtsam nutzt. Ihre Liebesszenen sind intim, ihre Neugier aufeinander mündet in eine tiefe, wehmütige, wehrhafte Vertraulichkeit. Nathan wird zu dem Freund, der an Kennys Seite blieb.

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