Kritik zu The Florida Project

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Im Hinterhof von Disney World: Sean Baker (»Tangerine L.A.«) erzählt, mit großem Einfühlungsvermögen in seine eigensinnigen, kleinen Hauptdarsteller, von einer Kindheit am Rande des Existenzminimums in Florida

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Dieses leuchtende Fliederlila! Dieses knallige Pink! An den öden Rändern von Disney World heißen die Motels Magic Castle und die Läden sehen aus wie gigantische Eistüten oder wie saftige Orangen. Was man leicht für stilbewusstes Production Design halten könnte, sind die Farben der Wirklichkeit, die in harschem Kontrast zur Trostlosigkeit der Lebensumstände stehen. Die Abbruchhäuser und das Brachland dahinter, die Einkaufszentren und Parkplätze, die engen, vollgestopften Motelzimmer, der verlassene Swimmingpool, an dessen Rand sich eine einsame alte Lady oben ohne sonnt, das Empfangs­büro, in dem ein ebenso strenger wie gütiger Hausmeister auf väterliche Weise waltet: In den Sommerferien, mit den Augen der sechsjährigen Moonee gesehen, ist diese Welt ein wundersamer Abenteuerspielplatz der unbegrenzten Möglichkeiten, den sie mit ihren beiden Freunden Scooty und Dicky so unsicher macht, wie einst die kleinen Strolche das junge Hollywood. Auf Autos spucken, den Strom im Hotel abschalten, in einem verlassenen Haus ein Feuer legen, Eis schnorren: Die Energie und die Fantasie der Kinder verzaubern den harschen Alltag.

Illegale Immigranten in »Prince of Broadway«, Transgender-Prostituierte in »Tangerine L.A.« und jetzt in »The Florida Project« White-Trash-Kids und ihre alleinerziehenden Mütter in einem billigen Motel am Rande von Disneyland: Sean Baker hat einen besonders zärtlichen Blick für Menschen an den Rändern der Gesellschaft, so wie in »Tangerine L.A.« auf die Transgender-Prostituierte Sin Dee, die am Weihnachtsabend durch Los Angeles fegt, auf der Suche nach dem Zuhälter, der ihr Herz gebrochen hat. Eine Furie der Leidenschaft, die in ihrem höllischen Feuer alles mitreißt, was ihr auf dem Weg durch die nächtliche Stadt in die Quere kommt. Menschen, von denen sonst in Kino und Fernsehen eher nicht erzählt wird, und wenn überhaupt, dann nur in erschütternden Dokumentationen, werden in seinen Filmen allein durch ihre unbändige Lebenslust zu Alltagshelden. Nüchtern betrachtet ist das Leben der sechsjährigen Moonee ein Fall fürs Jugendamt. Ihre alleinerziehende Mutter ist selbst noch ein Kind und von der Verantwortung für ihre kleine Tochter maßlos überfordert. Ihre Haut ist mit Tattoos übersät, ihr strähniges Haar in schmutzigem Türkis überfärbt. Den Lebensunterhalt erwirtschaftet sie mit Touristenbetrügereien, wie dem Verkauf gepanschter Parfums oder geklauter Disney-World-Tickets, und als Gelegenheitsprostituierte.

Doch trotz der prekären Verhältnisse schafft sie es, ihrem Kind ein Gefühl von Liebe und Geborgenheit zu vermitteln, was ein bisschen daran erinnert, wie Adrian Goiginger in »Die Beste aller Welten« von seiner eigenen Kindheit mit einer heroinsüchtigen Mutter erzählt hat. Beide Regisseure destillieren aus einer harten Kindheit magische Momente von Liebe und Abenteuer, ohne die Härten dieses Lebens zu beschönigen oder zu sentimentalisieren. Als Zuschauer wird man im Strudel wechselnder Gefühle von niederschmetternder Verzweiflung und magischem Glück mitgerissen, den Sean Baker virtuos auf die Leinwand zaubert. In langen Kamerafahrten nimmt er den Sturm und Drang der Kinder ebenso auf wie den Sog der mütterlichen Verzweiflung. Die ganz große Entdeckung ist die kleine Brooklynn Prince, die Moonee durch ihren entwaffnend natürlichen Charme erstrahlen lässt und die längst schon in weiteren Filmen aufgetreten ist.

Während die Laiendarsteller die Wahrhaftigkeit ihres eigenen Lebens in den Film tragen, liefert Willem Dafoe als väterlicher Hausmeister der Seelen die fiktive Rahmenkonstruktion, immer zugleich professionell distanziert, fürsorglich beschützend und warmherzig humorvoll. Erstaunlicherweise ist auch diese Rolle der Realität nachempfunden, in der die Hausmeister auch oft zugleich als Mediatoren und Sozialarbeiter agieren, wie Sean Baker bei seinen Recherchen beobachtet hat.

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