Kritik zu Atlantic

© Neue Visionen

Ein so sinnlich betörendes wie kluges Filmpoem über einen jungen Marokkaner auf dem Weg nach Europa – 300 Kilometer über das offene Meer, auf dem Windsurfbrett

Bewertung: 5
Leserbewertung
5
5 (Stimmen: 1)

In anderen Händen hätte diese Geschichte zum Thesenfilm, zum rauen Windsurferabenteuer oder auch zu Sehnsuchtskitsch werden können. Doch der Holländer Jan Willem van Ewijk wählt einen sehr eigenen Weg. Er überführt die Story des jungen Marokkaners und Windsurfers Fettah, der seine Heimat und seine Familie zurücklässt, um über den offenen Ozean nach Europa zu gelangen, in ein Werk von schwebender, lyrischer Freiheit. Schon zu Beginn befindet sich Fettah auf seinem Brett inmitten der Unendlichkeit des Meeres, seine halb geflüsterten Sätze und Satzfragmente legen sich aus dem Off über die Bilder, gerichtet an seine kleine Schwester, an die Holländerin, in die er sich verliebt hat, und an den Ozean. Die Szenen aus Marokko, die Vorgeschichte(n) seines Aufbruchs, in freier Chronologie eingestreut, wirken da weniger wie »Rückblenden« denn wie der unmittelbare Strom seiner Gedanken, dahinwogend im Rhythmus des Meeres, dessen Gefährlichkeit bei aller Schönheit stets spürbar ist. Die Bilder wechseln zwischen majestätischen Flugaufnahmen und sanft bewegter Handkamera, der fein komponierte Soundtrack zwischen den Geräuschen des Meeres und des Alltags im Fischerdorf, begleitet mal von den Klängen von Oud und Djembe, dann wieder von Streichern und Chor, als töne Sirenengesang von Europa herüber. Überlässt man sich dem Wechsel- und Zusammenspiel dieser Elemente, erzeugt Atlantic einen hypnotischen Sog, der jegliches Zeitgefühl aufzuheben vermag.

Doch nicht nur seine ans Transzendente rührende – und bisweilen an Terrence Malick erinnernde – Atmosphäre, auch die gut geerdete Empathie für seine Hauptfigur beeindruckt. Fettah muss nicht als Symbolgestalt für »den Flüchtling« herhalten, sondern bleibt stets Individuum. Van Ewijk hat dafür den idealen Darsteller gefunden: Der filmunerfahrene Fettah Lamara bringt außer seinen Fähigkeiten als Windsurfer auch den sozialen Hintergrund seiner Figur mit, erweist sich darüber hinaus aber als erstaunliches Schauspieltalent, das mühelos den gesamten Film trägt.

Glaubwürdig, in nur wenigen Momenten folkloristisch, wird das karge Leben im Heimatdorf skizziert, das Kommen und Gehen der Touristen, die während ihrer Surfurlaube zu Freunden werden, dann aber wieder abreisen. Zurück bleibt für die Einheimischen das bisschen Geld, das sie an den Touristen verdienen, vor allem aber eine Ahnung von jenem anderen Leben jenseits des Meeres. Für Fettah knüpft sich die Sehnsucht an die introvertierte Alexandra. Als sie wieder abreist, setzt er sich in den Kopf, zu ihr nach Holland zu gelangen.

Es sind also sehr »private« Gründe, die Fettah zum Flüchtling machen, von Politik ist in Atlantic so gut wie gar nicht die Rede. Als Hintergrund freilich ist sie ständig präsent. So ist dieses Filmpoem nicht nur eine kraftvolle sinnliche Erfahrung, sondern öffnet mit seiner Ästhetik der Entgrenzung dem Betrachter Raum für das eigene Denken, zum Beispiel fürs Hinterfragen von solch dürftigen Etiketten wie »Wirtschaftsflüchtling«.

Meinung zum Thema

Kommentare

Hallo liebe epd'ler,
eure kritik zum film ist zwar ganz ok - aber die doch eher dünne "boy-meets-girl"-story mit dem noch klischee-behafteteren muster "armer marokkaner mit sehnsucht noch blonder europäerin" ist dann doch durchs raster der kritik gerutscht? sicherlich ist das leben nicht frei von solchen geschichten, momenten .. aber muss man sie dann doch zum x-ten male erzählen - zumal in dieser form, wenn der "plot" nur die mühselige erzählklammer für ansonsten gelungene bilder und momente vom leben an der küste dieses landes und sehr gelungene kleine einblicke in ihre geschichten gibt? zumal die verknüpfung mit der verlorenen mutter ("die augen") dann nochmal peinlicher wirkt.
meint
Uwe

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