Cannes: Goldene Palme für »Anora«

»Anora« (2024). © Festival de Cannes

Ein Festival ohne politische Polemik hatte Leiter Thierry Frémaux zu Beginn dieses 77. Filmfestivals von Cannes in Aussicht gestellt. Die vielleicht größte Überraschung dieses Jahrgangs besteht darin, dass das Versprechen eingelöst wurde. Tatsächlich fand das Festival am Samstagabend seinen Abschluss mit einer Preisvergabe, die sich so unumstritten wie selten an die während der zehn Tage etablierten Favoriten hielt.

Jury-Präsidentin Greta Gerwig versteht etwas vom Geschmack der Kinobesucher, schließlich ist sie Regisseurin und Autorin des publikumsstärksten Films des vergangenen Jahres, »Barbie«. Mit der Verleihung der Goldenen Palme an Sean Bakers Drama »Anora« wählte ihre Jury zweifellos den Film mit dem größten Zuschauerpotential unter den diesjährigen Wettbewerbsbeiträgen aus: Die Geschichte einer jungen Strip-Tänzerin ist, wenn man so will, eine Neufassung des »Pretty Woman«-Klassikers mit Julia Roberts, nur realistischer und rauer, mit sehr viel mehr Sex und einem weniger blauäugig angelegten Happy End.

Eine junge Strip-Tänzerin (mit großem Charme von Mikey Madison gespielt) lässt sich im Film in New York von einem 21-jährigen russischen Oligarchen-Sohn eine Woche als Begleiterin anheuern. Bei Party, Tanz und Drogen hat das Paar so viel Spaß miteinander, dass sie in Las Vegas spontan heiraten. Als die strenge Oligarchenmutter davon erfährt, schickt sie ihre Handlanger, um das Paar mit einigem Nachdruck zur Annullierung der Ehe zu bewegen. Der für seine Filme aus dem Sexarbeiter-Milieu – »Tangerine« (2015) und »Red Rocket« (2021) – bekannte Independent-Regisseur Sean Baker besitzt ein aufmerksames Auge für das Zusammentreffen von Privileg und Schäbigkeit, von Manhattan-Glamour und Coney-Island-Milieu. Seine revisionistische Aschenputttel-Geschichte filmt er mit einer Spontaneität und Lebendigkeit, die mitreißt und über den Einsatz gelegentlicher Klischees hinwegschauen lässt.

Eine Neigung fürs Populäre zog sich als Thema durch die gesamten Jury-Entscheidungen. So wurden gleich zwei Preise an das spanischsprachige Musical »Emilia Perez« vergeben, in dem ein mexikanischer Drogenboss nach seiner Geschlechtsumwandlung zur Wohltäterin für die Opfer des Drogenkriegs wird. Der französische Regisseur Jacques Audiard erhielt den Jury-Preis, sein Darstellerinnen-Ensemble, angeführt von der spanischen Transgender-Schauspielerin Karla Sofía Gascón die Palme in der Kategorie der besten weiblichen Darstellung. Ähnlich wie »Anora« gehörte »Emilia Perez« zu den Festivallieblingen der diesjährigen Ausgabe.

Applaus gab es für den iranischen Regisseur Mohammad Rasoulof, den die Jury mit einem eigens kreierten Spezialpreis ehrte. Der Zuspruch galt dabei sowohl seinem neuen Film »The Seed of the Sacred Fig« als auch dem Mann selbst, der in einer erstaunlichen Wendung der letzten Wochen zuerst in seiner Heimat zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, dann aber in letzter Minute den Iran noch verlassen konnte, um seinen Film in Cannes persönlich präsentieren zu können.

Mit »The Seed of the Sacred Fig« ergreift Rasoulof leidenschaftlich Partei für die Frauenbewegung in seinem Land. Angesetzt inmitten der iranischen Frauenproteste im Herbst 2022 vollzieht der Film die Ereignisse aus Sicht der angepassten Familie eines Richters nach. Dessen zunächst noch traditionsgläubige Ehefrau gerät zunehmend in Konflikt mit den zwei selbstständig denkenden Töchtern. Eindrücklich schildert Rasoulof, wie die Rebellion der Anderen unweigerlich in die Regime-treue Familie eindringt und die Verhältnisse sprengt.

Als große Entdeckung der letzten Festivaltage hatte sich Payal Kapadias »All We Imagine is Light« herausgestellt, ein ungeheuer atmosphärisches Drama um drei Frauen in Mumbai, die jede auf ihre Weise um Kontrolle des eigenen Lebens in einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft ringt. Die 38-jährige Payal Kapadia erhielt den Grand Prix, gewissermaßen die Silbermedaille des Festivals, das in diesem Jahr zwar wieder nur vier Frauen im Wettbewerb hatte antreten lassen, dafür aber von Geschichten mit Frauen im Zentrum dominiert war.

Einen besonderen emotionalen Höhepunkt erlebte die Abschlussgala mit der Verleihung der Lebenswerk-Auszeichnung an den 80-jährigen »Star Wars«-Regisseur George Lucas. Als Laudator trat sein 85-jähriger »New Hollywood«-Mitstreiter Francis Ford Coppola auf. In einer Mischung aus Nostalgie und Trotz bedankte sich ein gerührter Lucas beim Publikum schließlich mit den Worten, das Kino heute sei »eine andere Welt«.

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