Weltmeisterschaft des Kinos

69. Filmfestival von Cannes (11. - 22.05.2016)
»Toni Erdmann« (2016). © NFP/Filmwelt

Es gibt eine Klage, die in diesem Mai an der Côte d'Azur endlich einmal nicht zu hören sein wird: die Klage darüber, dass es wieder kein deutscher Film in den Wettbewerb des berühmtesten Filmfestivals der Welt geschafft habe. Nach Wim Wenders mit seinem »Palermo Shooting« vor acht Jahren ist die in Karlsruhe geborene Maren Ade mit »Toni Erdmann« tatsächlich wieder die erste deutsche Regisseurin, der die Ehre zuteil wird, im Rennen um die Goldene Palme anzutreten. Wenders' Gewinn der Goldenen Palme für »Paris Texas« liegt derweil 32 Jahre zurück, und bereits sieben Jahre ist es her, dass mit »Das weiße Band«, bei dem der Österreicher Michael Haneke Regie führte, ein immerhin mehrheitlich deutsch produzierter Film die begehrte Auszeichnung bekommen hatte.

Maren Ade ist dabei keine gänzlich Unbekannte, ihr Film »Alle anderen« wurde auf der Berlinale 2009 mit zwei silbernen Bären ausgezeichnet. »Toni Erdmann«, der am Samstag Premiere an der Croisette feiern wird, ist erst ihr dritter Spielfilm. Joseph Bierbichler spielt darin einen Vater, der nach Jahren der Entfremdung wieder Kontakt zu seiner erwachsenen Tochter (Sandra Hüller) aufnimmt.

»Alle Anderen« (2008). © Prokino

Außenseiterstatus kommt Ade bei diesem 69. Filmfestival in Cannes aber nicht nur als deutsche Filmemacherin zu, sondern auch als nur eine von vier Regisseuren im Wettbewerb, die zum ersten Mal dabei sind, und zusätzlich als eine von nur drei Frauen unter insgesamt 21 Palmen-Kandidaten. Wobei Außenseiterstatus keineswegs mit Chancenlosigkeit gleichzusetzen ist, hat doch zum Beispiel im vergangenen Jahr mit »Son of Saul« Regiedebütant László Nemes zuerst den Grand Priz in Cannes und später den Auslands-Oscar gewonnen.

Die anderen Klagen, die erklingen, sobald an der Croisette der Rote Teppich ausgerollt wird, sind folglich wieder dieselben: Erneut muss sich Festivaldirektor Thierry Frémaux vorwerfen lassen, dass zu wenig Frauen zum Zug kommen und dass Cannes zu sehr auf bewährte alte Meister setze, während neue Talente zu wenig Chancen erhalten. Gegenüber dem Branchenmagazin Screen Daily hat Frémaux dafür in diesem Jahr eine neue Verteidigungsmetapher gefunden: Cannes – das sei die Weltmeisterschaft des Kinos, und da erwarte das Publikum nun mal den Auftritt von Weltklassesprintern wie Usain Bolt und keine Freizeitjogger. In der Frauenfrage suchte er Hilfe in der Statistik: Mit neun von 49 Beiträgen im offiziellen Programm (das schließt Vorführungen außerhalb des Wettbewerbs und die Nebensektion Un certain regard mit ein) aus Frauenhand liege der Durchschnitt weiblicher Repräsentation in Cannes weit über den sieben Prozent, die Studien als weltweiten Anteil von Frauen im Regiestuhl angeben.

»Money Monster« (2016). © Sony Pictures

Die Stimmung im Vorfeld dieser 69. Festspiele ist also einigermaßen gereizt. Und das obwohl sich das Programm in jeder Hinsicht sehen lassen kann. Eine Reihe großer Hollywood-Namen – Russell Crowe, Julia Roberts, Ryan Gosling, Charlize Theron – sichert den Glamour-Faktor. Jodie Foster präsentiert ihren Film »Money Monster« mit George Clooney in der Hauptrolle. Steven Spielberg zeigt seine Kinderbuchverfilmung »BFG«. Bewährtes (wie der neueste Film der belgischen Regie-Brüder Dardenne) wird sich mit Berüchtigtem (wie dem Horror-Thriller »Neon Demon« vom Kult-Dänen Nicolas Winding Refn) abwechseln. Überraschungen erhofft man sich von wilden Altmeistern wie dem Holländer Paul Verhoeven, der erstmals mit der französischen Schauspielikone Isabelle Huppert drehte, oder von Autorenfilm-Entdeckungen wie den Rumänen Cristi Puiu und Cristian Mungiu. Sogar ein kleiner Skandal ist vorprogrammiert: Wenn Sean Penn seine jüngste Regiearbeit »The Last Face« vorstellt, wird er unweigerlich seinem Star Charlize Theron begegnen, die zugleich seine Exfreundin ist. Dem eventuell peinlichen Zusammentreffen fiebert das Publikum am Roten Teppich bereits entgegen.

Frémaux' Darstellung von Cannes als »Weltmeisterschaft des Kinos« folgt der Linie, mit der der Direktor nicht immer ganz glücklich das Festival an der Côte d'Azur als letzte Bastion des wahren Kinos verteidigt: Kino als elegante Affäre, in der Selfies, Twitter, Serien und Frauen in flachen Schuhen keinen Platz haben. Doch wie lange wird Cannes diese Haltung beibehalten können gegen die neuen digitalen Verbreitungswege, die sich anschicken, dem Kino als bevorzugtem Ort für die Filmprojektion den Garaus zu machen? Zu den denkwürdigsten Ereignissen im vergangenen Jahr in Cannes zählte der Auftritt des Netflix-Chefs Ted Sarandos, der angegriffen wurde dafür, dass seine Firma das »Ökosystem des europäischen Autorenfilms« zerstöre. Wie als Antwort darauf ist Netflix-Konkurrent Amazon in diesem Jahr mit fünf Filmen, vier davon im Wettbewerb, vertreten. Im Gegensatz zu Netflix nämlich, so Frémaux in einem Interview mit dem »Hollywood Reporter«, setze Amazon auf die Auswertung seiner Filme in den Kinos.

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