Berlinale-Retro: »Ein Sack Reis« (1996)

»Kiseye Berendj« (1996)
»Ein Sack Reis« (1996). © Mitra Mahaseni, courtesy of Mohammad-Ali Talebi

Die große Chance der diesjährigen Retrospektive mit ihrer Strategie, die Filme von Filmschaffenden aus aller Welt zusammentragen zu lassen, ist ja, dass man Entdeckungen macht mit Filmen, die einem sonst nie untergekommen wären. In diesem Fall hat Tilda Swinton den iranischen Film »Kiseye Berendj« aus dem Jahr 1996 ausgesucht, ein Film, der wirklich beglückt. Die Schattenseite ist, dass Swinton nicht persönlich den Film vorstellte, dass auch kein Grußwort verlesen wurde, wo es nun schonmal keine Broschüre gibt, die man getrost nach Hause tragen kann. Man muss auf der Berlinale-Webseite finden, was Swinton meint: Der Film »ist einer meiner absoluten Lieblinge. Dieser Film wirkt wahre Wunder. Jeder Zuschauende wird auf alchemistische Weise zu einem kleinen Mädchen.«

Stimmt. Die vierjährige Jairan ist unglaublich in diesem Film, der mit Laien das darstellt, was Schauspieler nie könnten, nämlich einen Blick in eine Wirklichkeit, die gestaltet ist und doch gerade nicht. Jairan streitet mit ihrer Schwester, wächst in der Hektik einer Großfamilie auf, und sie ist ganz Kind. Sie lernt von den Erwachsenen, sie weiß sich zu helfen, sie spiegelt die Welt um sie herum in ihrem kleineren, aber nicht geringeren Horizont. Die Handlung des Films: Jairan geht mit der alten Nachbarin einen Sack Reis kaufen. Aber wie das von Mohammad-Ali Talebi inszeniert ist, wie der Filmemacher die Kinderwelt aufnimmt, wie er in ihr die Erwachsenenwelt zeigt! Jairan ist kindlich altklug: Als sie sich mal den Finger verbrennt, erklärt sie der Alten: Du kannst nicht geradeaus pusten, du hast zuwenig Zähne! Sie ist hilfsbereit: Arbeitet im Haushalt (Ich wäre so gerne in der Schule, dann müsste ich zuhause nicht so viel arbeiten!), trägt einem anderen Kind die Mütze hinterher. Sie entwickelt Problemlösungsstrategien: Was tun, wenn Münze und Brille in ein Wasserrohr gefallen sind? Sie argumentiert klug und auf verschiedenen Ebenen für ihre Anliegen: Sie will mit der Nachbarin mit in die Stadt: Ich kann gut sehen und gut laufen, ich mache mir Sorgen um sie, ich bin hilfreich! Sie hat das tiefe Bedürfnis, den Spielplatz zu besuchen: Wir wären beide glücklich dort! Meinst du nicht, dass Gott böse wird, wenn ich traurig bin? Hat dich als Kind nie jemand mit in den Park genommen? Natürlich hat sie auch einen unwiderstehlichen Bettelblick drauf: Talebi begeht nie den Fehler, die Kinder zu kleinen Erwachsenen zu machen, wie er auch nie den Fehler macht, sie zu Klischees zu verniedlichen.

Und wie viele Abenteuer eine Einkauftour in die Stadt bereit hält – und wie viel Hilfsbereitschaft man begegnet, wenn man sie braucht! Und dann streut Talebi Momente reiner Magie ein: die Mütze fliegt von Zauberhand auf den Kopf des Kindes, eine Münze wird gekonnt geflippt, und das Platzen einer aufgeblasenen Tüte lässt einen ganzen Bus im Chaos versinken. Diese Momente stören überhaupt nicht den so genauen und so liebevollen sozialen Realismus, sie machen aus dem Film nie ein Märchen. Im Gegenteil: Sie zeigen auf ihre Weise, wozu Kinder fähig sind, was Erwachsene in ihrer eigenen Sicht auf die Dinge niemals bemerken.

Tilda Swinton: »Dieser Film weist uns den Weg zu einem erleuchteten Horizont, hinter dem Mitgefühl und Gemeinschaft warten. Dieses Werk erzeugt Hoffnung, Glaube und Liebe; und was kann Kino mehr wollen?«

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