Sie wollen geknuddelt werden

»First Cow« (2019). © Allyson Riggs/A24

Der Berlinale-Wettbewerb, heißt es im Programm, zeige nicht nur die besten Filme eines Jahrgangs, sondern auch die, über die man spricht, »die oft hitzige Diskussionen anregen«. Nach den ersten Tagen muss man sagen: Das hat noch nicht so ganz hingehauen. Ausgerechnet die Hauptsektion des Festivals wirkt merkwürdig gedämpft, fast etwas anämisch – hoffentlich wird es sich nicht rächen, dass Carlo Chatrian, der neue künstlerische Leiter des Festivals, die formal experimentelleren Arbeiten in eine eigene Abteilung, die »Encounters«, ausgelagert hat. Zwischen den edlen Bildern der italienischen Künstlerbiografie »Volevo Nascondermi«, einer erstaunlich altherrenhaften Jungmännergeschichte von Philippe Garrel (»Le sel des larmes«) und dem argentinisch-mexikanischen Arthouse-Psychothriller »El prófugo« scheint sich immerhin ein vorläufiger Kritiker- und Publikumsliebling herauskristallisiert zu haben. In »First Cow« erzählt die US-amerikanische Autorenfilmerin Kelly Reichardt von einer ungewöhnlich sanften Männerfreundschaft im Oregon des frühen 19. Jahrhunderts, von der Sehnsucht nach Zuwendung und Fürsorge inmitten der ökonomischen Dynamik eines Gründerstaats.

Auch Christian Petzold richtet in seinem neuen Film, dem ersten deutschen im Wettbewerb, den Blick nach innen. Gemessen an »Transit«, seiner Aktualisierung von Anna Seghers' großem Exilroman, die 2018 in Berlin lief, wirkt »Undine« fast wie eine Fingerübung. Die in vielen Variationen durch die Kulturgeschichte geisternde Figur der Nixe, die sich mit einem Menschen vermählen muss, um eine Seele zu bekommen, sieht hier aus wie Paula Beer und arbeitet als Historikerin in der Berliner Stadtmodelle-Ausstellung. Undines Beziehung zu einem Vertreter des postsozialistischen, businessorientierten Berlin, das sie in ihren Führungen subtil kritisiert, geht gerade in die Brüche; da erscheint ihr ein reiner Ritter, komplett mit Rüstung und Visier: das ist der schwere Anzug, den Christoph (Franz Rogowski) bei seiner Arbeit als Industrietaucher trägt. Solche offensichtlichen Transfers funktionieren bei Petzold ganz gut, und er steuert das Liebesdrama um das schöne Paar mit großer Selbstverständlichkeit durch Seen und Swimming Pools. Gemessen an der Leidenschaft mancher Vorlagen – der Nixenspuk, der Tod im Wasser, war immer eine ziemlich erotische Metapher –, wirkt die neue »Undine« allerdings verhalten. Vielleicht, weil es uns heute nicht an Sex, sondern an Liebe mangelt.

Auf der »Berlinale Special«-Schiene wird offensiver Politik getrieben. Ein Beitrag, »über den man sprach« und dem ein gewisser Ruf vorauseilte, war etwa die deutsch-russische Produktion »Persischstunden«, Vadim Perelmans Adaption einer Kurzgeschichte des renommierten deutschen Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase. Der Film erzählt von einem belgischen Juden, der die Shoah in einem KZ in Deutschland überlebt, weil er zufällig an ein Buch in Farsi gelangt ist und sich als Perser ausgibt. Umgehend wird Gilles/Reza als Sprachlehrer von einem Obersturmbannführer »requiriert«, der davon träumt, nach dem Krieg ein Restaurant in Teheran zu eröffnen. Unter beständiger Lebensgefahr, inspiriert durch die Gefangenenlisten, die er für den Offizier führen muss, erfindet Gilles mehr als zweitausend Wörter – alle verdächtig kurz und grammatisch unverbunden. Aber, frei nach Adorno: Die Dummheit der Nazis war eine List der Vernunft – Koch kauft »Rezas« Kunstsprache.

Faschismus, Antisemitismus, muslimische Kultur: ein aufgeladener Themenkomplex. Doch »Persischstunden« entfaltet sich als mit einem Hauch SS-Exploitation angereichertes Kostümkino, das seine visuelle Ratlosigkeit schon in der ersten mörderischen Szene, einer Hinrichtung im Wald, verrät: Da fallen die Opfer unterm Krachen der Maschinengewehre einfach um, lautlos, ohne Zucken – hygienisch, möchte man sagen. Für die Geschichte des jüdischen Häftlings scheint sich der Film weniger zu interessieren als für die Beziehungsdynamik unter den KZ-Schergen. Und der hochtalentierte Nahuel Pérez Biscayart, ein Star des französischen Kinos (»120 BPM«), hat in der Hauptrolle Mühe, sich gegen die Nazi-Power-Performance seines Ko-Stars Lars Eidinger zu behaupten. Regisseur Perelman sagte, es sei ihm um die Interaktion gegangen und darum, die menschliche Seite von Nazis und Deutschen zu zeigen. Warum klingt das jetzt gerade so hohl?

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