Schaukämpfer

In Venedig werden wieder einmal die Stoppuhren gezückt. Man dachte, diese Manie habe sich allmählich gelegt. Aber auch in diesem Jahr muss jeder Schlussapplaus akkurat gemessen werden. Zumal die anglo-amerikanischen Presse sieht sich hier in der Chronistenpflicht. Am Montag war ein erster Rekord zu vermelden. Bei „The Smashing Machine“ dauerten die stehende Ovation 15 Minuten, welche den Hauptdarsteller Dwayne Johnson zu Tränen rührten.

Diese stolze Marke wurde wenige Tage später von dem Gaza-Drama „The Voice of Hind Rajab“ um acht Minuten überboten. Dem Vernehmen nach schluchzten diesmal auch das Publikum und etliche Journalisten nach Kräften. Wir wissen nicht, ob Johnson das als Niederlage empfindet. Sorgen um seinen Ruhm muss er sich wohl nicht machen. Der stürmische Applaus galt zwar nicht nur ihm, aber er durfte ihn sehr wohl persönlich nehmen. Der furchtbar gewinnende Darsteller – niemand außer Tom Cruise hat so genau begriffen, dass das Lächeln unverzichtbar zu dem Metier des Stars gehört – wurde natürlich nicht müde, den Beitrag seiner Mitstreiter, allen voran seiner Leinwandpartnerin Emily Blunt, zu diesem Triumph zu würdigen. Diese demonstrative Bescheidenheit kann er sich leisten, denn seit Montagabend scheint sich endlich sein Traum zu erfüllen, als seriöser Schauspieler anerkannt zu werden. Sein Ruf als franchise viagra war in letzter Zeit ja arg ramponiert; namentlich das Fiasko „Black Adam“ hat diesbezüglich erhebliche Zweifel geschürt. Aber nun wird der vormalige Wrestlingstar für Darstellerpreise hoch gehandelt. Die US-Presse liest bereits eifrig im Kaffeesatz. Auch wenn er die Coppa Volpi am Lido nicht erstreiten sollte, scheint eine Oscar-Nominierung schon eine ausgemachte Sache zu sein. Eventuell stehen ihm noch höhere Weihen bevor, denn seinen nächsten Film dreht er mit Martin Scorsese.

Den Kosenamen, den er als Ringkämpfer trug - „The Rock“ - mögen er und seine Fans inzwischen ad acta gelegt haben. Er passte eher in die Zeit, als der freundliche Hüne sich in frühen Leinwandauftritten („The Scorpion King“) noch mit so lästigen Vokabeln wie Mesopotamien abmühen musste. Aber seinen ehemaligen Beruf hält der 53jährige gewiss noch in Ehren. Dieser scheint in den USA derzeit ohnehin zu Höherem zu berufen, wie der Fall Linda MacMahon zeigt, die ihre Erfahrungen als Wrestlerin und WWE-Managerin schließlich für das Amt der Bildungsministerin qualifiziert hat. Gleichviel, für einen befreundeten Kollegen und mich bot die aktuelle Neuerfindung von Johnsons Leinwandpersona eine willkommene Gelegenheit, eine der entscheidenden Fragen schlechthin an die Filmgeschichte zu stellen: Wer eignet sich besser für eine Schauspielerkarriere, ehemalige Boxer oder Ringkämpfer?

Für mich lag die Antwort auf der Hand: Letztere. Wer aus der anderen Fraktion hat es denn schon weit gebracht? Allein schon wegen ihrer plattgedrückten Nasen waren Boxer traditionell für rohe Nebenrollen disponiert, namentlich als Handlanger in Gangsterfilmen - schauen Sie sich nur einmal die Spießgesellen von George Raft in „Manche mögen's heiß“ an. Berühmte Champions wie Muhammad Ali, Ken Norton oder Max Schmeling absolvierten nicht mehr als ein, zwei Filmengagements. Über Max Baer, der Anfang der 1930er einmal eine Rolle spielte, die für Clark Gable gedacht war, hat sich gnädiges Vergessen gelegt. Joe Bugners Filmlaufbahn war zwar länger, aber letztlich fristete er nur ein darstellerisches Gnadenbrot als Widersacher von Terence Hill und Bud Spencer.

Bei Ringkämpfern, meinte ich, fällt die Bilanz schon ganz anders aus. Mein Hauptargument war natürlich der sublime Lino Ventura. Und der Blick nach Mexiko bestätigte meine These schlagend. Dort ist die „Lucha libre“, der Freistilkampf, nicht nur ein Volkssport, sondern hat auch ein eigenes Kino-Genre mit einer stolzen Tradition hervorgebracht, die bis in die 1950er Jahre zurückreicht. Luchadores wie der berühmte „El Santo“ feierten unglaubliche, andauernde Erfolge. Mit ihren phantasievollen Kostümen und Masken waren sie ja sowieso echte Showmen, die im Ring festgelegte Rollen spielten. Das Gleiche gilt für US-Wrestlingstars, die sich seit Jahrzehnten notorisch abgekartete Schaukämpfe lieferten. Der unlängst verstorbene Hulk Hogan, André The Giant oder der treffliche Roddy „Rowdy“ Piper (der in John Carpenters „The Live!“ praktisch im Alleingang dem US-Kapitalismus die Stirn bietet) waren also bestens vertraut mit Inszenierung und Choreographie. Dave Bautistas Werdegang habe ich zwar nicht genau verfolgt, aber sein Auftritt als erschöpfter Replikant in „Blade Runner 2049“ sichert ihm einen Platz in der Ruhmeshalle. Über John Cena schwieg wohlweislich während unseres Disputs wohlweislich; sein frecher Mangel an geistiger Spannkraft verwirrt mich zu sehr. .

Dass mein Kollege Jean-Paul Belmondo als Gegenargument ins Feld führen wurde, hatte ich selbstredend vorhergesehen. Aber hatte der nicht bloß in seiner Jugend geboxt und keine wirkliche Profikarriere angestrebt? Andererseits stand ihm das gebrochene Nasenbein ja prächtig zu Gesicht. Mein Freund hatte noch andere Pfeiler im Köcher. Liam Neeson hat es vor seiner Leinwandkarriere gar zum irischen Meister gebracht, was wiederum sein charakteristische Nasenform erklärt. Jack Palance' prächtig eingedellte Nase bezeugt ebenfalls ein solches Vorleben. Und hatte Mickey Rourke nicht auch eine Laufbahn als Boxer eingeschlagen? Ich meinte, das habe er nach dem Abebben seines Leinwandruhms (und ausgerechnet nach seinem Venedig-Erfolg in „The Wrestler“) in Angriff genommen. Mir fiel dann noch Tony Danza ein (auch ihm sah man die Spuren einiger Fights an), der immerhin ein Fernsehstar war. Ich lernte ihn kurioserweise einmal in einer Kneipe in New York kennen, wo er den Sieg eines Boxers feierte, an dem er „Anteile“ besaß. Zu seiner Entourage gehörten einige ziemlich zwielichtige Gestalten, die geradewegs aus einem Warner Brothers-Film zu stammen schienen.

Wir einigten uns vorerst auf ein Unentschieden. Aber ganz aufgeben wollte mein Gegenspieler noch nicht. Die Suchmaschine gab noch einen anderen berühmten Namen her, den wir nicht auf dem Schirm hatten: Bob Hope. Dessen Nase hatte nun aber einen für Boxer ganz untypischen Schwung. Er scherzte gern, sie sei noch länger als die von Richard Nixon.

 

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