Ohne dritten Akt

Nachdem Richard Brooks einige Jahre erfolgreich als Drehbuchautor für MGM gearbeitet hatte, fand er es an der Zeit, in den Regiestuhl zu wechseln. Er fasste sich ein Herz und sprach beim Studioboss Louis B. Mayer vor. Der wiegelte erst mal ab: „Warum wollen Sie Regisseur werden? Regisseure sind doch nichts weiter als Verkehrspolizisten!“

Mayer gab dennoch nach. Brooks' Regiedebüt „Crisis“ steht 1950 am Anfang einer glorreichen Karriere, zu deren Glanzpunkten „Deadline USA“, „Elmer Gantry“, „Lord Jim“ und „Kaltblütig“ zählen; in „Die gefürchteten Vier“ spielte die gerade verstorbene Claudia Cardinale ihre erste Westernrolle. Aus Produzentensicht lässt sich Mayers Argument durchaus nachvollziehen. Ihm ging es darum, dass der Studiobetrieb reibungslos funktionierte. Da waren ihm Regisseure lieb, bei denen alles geregelt ablief, die zuverlässig und berechenbar waren. Brooks gehörte mitnichten in diese Kategorie. Er hielt sich zwar streng an seine Drehbücher, aber niemand außer ihm hätte sie so zupackend realisieren können.

Wäre der allmächtige Louis B. heute noch am Leben, würde er den Einsatz von Künstlicher Intelligenz bestimmt begrüßen: So viel Vorhersehbarkeit bei der Filmproduktion war zu seiner Zeit nicht – und all die teuren, eigensinnigen Künstler, mit denen man sich nun nicht mehr abquälen muss! Ob er sich darüber gefreut hätte, dass Orson Welles ' Schnittfassung von „The Magnificent Ambersons“ (Der Glanz des Hauses Amberson) nun mit Hilfe von KI rekonstruiert werden soll, ist fraglich. Für einige phantasievolle Historiker ist dies immerhin einer der marxistischsten Filme, die je in den USA entstanden. Und einem Maverick wie Welles hätte er ohnehin nie einen Film anvertraut.

Welles stieß allerdings auch bei der kleineren Konkurrenz RKO auf heftigen Widerstand. Nachdem sein Regiedebüt „Citizen Kane“ an den Kinokassen weit hinter den Erwartungen zurückblieb, waren die Flitterwochen zwischen Wunderkind und Studio rasch vorüber. Sein Nachfolgeprojekt, die Adaption des epischen Romans von Booth Tarkington, stand unter keinem guten Stern, nachdem die erste Schnittfassung (mit einer Länge von 131 Minuten) 1942 bei einem Preview durchfiel. Welles war derweil schon auf dem Weg nach Brasilien, wo er im Rahmen der Good-Neighbour-Policy der Roosevelt-Regierung „It's all true“ drehen sollte. Während sein bewährter Schnittmeister Robert Wise in Hollywood blieb, nahm Welles eine Kopie der vollständigen Version mit, um selbst Kürzungen vorzunehmen. Wise stand daheim auf verlorenem Posten; das Studio kürzte 43 Minuten (insbesondere der dritte Akt fehlt) und ließ einige Szenen nachdrehen, darunter ein angeklebtes Happyend. Welles bezeichnete das Massaker an seiner Vision als die größte Tragödie seines Lebens. Zwar haben die „Ambersons“ auch in der 88-Minuten-Fassung erheblichen Ruhm erlangt, aber Welles' komplette Version gehört seither zu den großen Legenden der Hollywoodgeschichte: ein heiliger Gral, nach dem so emsig gesucht wurde wie nach der Langfassung von „Greed“ und anderen auf Produzentengeheiß zerstörten Meisterwerken (siehe Eintrag „Der unheilige Gral“ vom 22.7. 2024). Welles Drehbuchexemplar und ein Teil seiner Notizen (bestimmt nicht so umfangreich wie das epochale, über 50 Seiten lange Memo mit seinen Änderungswünschen für „Im Zeichen des Bösen“) existieren noch. Ein Filmemacher namens Brian Rose versucht seit 2019, die Originalfassung zu rekonstruieren, unter anderem mit Kohlezeichnungen und Animationsszenen. „Turner Classic Movies“ finanzierte 2022 eine Expedition des Dokumentaristen Joshua Grossberg nach Brasilien, wo angeblich in den 1960ern Welles Kopie wieder aufgetaucht war. Der Romantiker in mir wartet noch immer auf das Ergebnis dieser Reise. „The Lost Print: The Making of Orson Welles' The Magnificent Ambersons“ soll irgendwann auch mal gezeigt werden; Grossberg verspricht spektakuläre Erkenntnisse, aber der Titel lässt vermuten, dass auch er die fehlenden 43 Minuten noch nicht gefunden hat.

Anfang September gab eine Firma mit dem anspielungsreichen Namen „Fable Studios“ (hinter ihr steht Amazon) bekannt, dass sie an der Rekonstruktion der 131 Minuten-Fassung arbeitet. Sie rühmt sich, „the Netflix of AI“ zu sein, was in meinen Ohren keinen guten Klang hat. Der Firma gebricht es nicht an Selbstbewusstsein, vollmundig kündigt sie an, ihre Aktivitäten bei Welles zu beginnen, weil er der„größte Geschichtenerzähler der letzten 200 Jahre“ sei. Nun werden die Algorithmen gefüttert, damit sie so wie der Meister denken. Wird er am Ende doch berechenbar? Brian Rose soll die Arbeit überwachen. Welles' Tochter Beatrice und ihre Anwälte erfuhren erst aus der Presse von dem Vorhaben. Offenbar kam niemand auf die Idee, sie im Voraus zu kontaktieren. Solch fehlender Respekt lässt nichts Gutes ahnen. Angeblich soll das fertige Produkt nur akademischen Zwecken dienen und nicht kommerziell ausgewertet werden. Das glaube, wer will.

Unterdessen stieß ich im Programm des Münchner Filmmuseums auf die Vorführung einer Videorekonstruktion von „The Magnificent Ambersons“. Sie lief im Rahmen der wahnsinnig umfangreichen Retrospektive „This is Orson Welles“, die bis Anfang November zu sehen ist. Oja Kodar, Welles' letzte Lebensgefährtin, übergab dem Museum 1995 die verbliebenen Filmmaterialien zur Aufarbeitung. Zahlreiche dieser Schätze gehen auch in die große Herbstausstellung „My Name is Orson Welles“ der Cinémathèque francaise ein, die am 8. Oktober eröffnet wird. Stefan Drössler, der Leiter des Filmmuseums, ist eine der weltweit führenden Kapazitäten auf dem Feld der Welles-Forschung.

Auf meine Frage, was es mit der Videorekonstruktion auf sich hat, antwortet er: „Als ich 2005 in Locarno die Welles-Retro kuratiert habe, habe ich eines der täglichen Panels den AMBERSONS gewidmet. Damals bin ich im Internet auf Roger Ryan gestoßen, der privat mit erstaunlichem Aufwand, handwerklichem Geschick und filmhistorischer Sachkenntnis seine Video-Rekonstruktion vorstellte, die wir erstmals der Öffentlichkeit präsentierten. Alle, von dem Welles-Biographen Joe McBride bis zur Welles-Tochter Christopher, waren beeindruckt. Roger Ryans 32 Jahre alte Rekonstruktion liegt im Filmmuseum und verdient meiner Meinung mehr Beachtung als ihr bisher zugekommen ist. Auch bei der Aufführung in unserem Haus kamen mehrere Zuschauer zu mir und dankten, weil sie zum ersten Mal den Film richtig verstanden hätten. Ich habe nach Locarno über mehrere Jahre vergeblich versucht, ein Rekonstruktionsprojekt auf höchstem technischen Niveau zusammen mit Roger Ryan ins Leben zu rufen. Es scheiterte, weil die RKO-Rechte leider zersplittert sind, d.h. nach Kontinenten und Medien zwischen verschiedenen Firmen aufgeteilt sind, die leider untereinander nicht kooperieren (um es diplomatisch zu formulieren).“Dieser Mangel an Kooperation und Wahrnehmung gilt auch für die amerikanische Fachpresse („Variety“, „The Hollywood Reporter“ etc), die in ihrer Bericherrstattung über den vermeintlichen Coup nicht über den heimischen Tellerrand hinausblickt. Dabei hätte sie mit Roger Ryan einen unbesungenen Helden feiern können.

Gleichviel, Stefan Drößler schreibt mir zum aktuellen Projekt von Fable Studios: „Grundsätzlich halte ich den Einsatz moderner Techniken bei der Filmrekonstruktion für zulässig und sinnvoll. Ich finde es durchaus interessant, wenn es künftig Programme gibt, um Bildschäden und sogar Bildsprünge zu beheben. Aber man muss die technischen Mittel immer mit Sachverstand einsetzen, das geht bei Kunstwerken nicht nach 08/15-Regeln. Es geht ja nicht nur ums Bild (es existieren Fotos von den verlorenen Szenen), sondern auch um den Ton (bei Welles extrem wichtig) und um Rhythmus und Montage. Leider ist mit "Orson Welles" schon so viel Schindluder getrieben worden, von Jess Franco's DON QUIXOTE bis zu THE OTHER SIDE OF THE WIND, dass bei AMBERSONS auch eher mit Schlimmerem zu rechnen ist. Ich bezweifle, dass die Technik bereits auf einem Level ist, die gerade bei diesem Film äußerst komplexen Probleme zufriedenstellend zu lösen.“

 

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