Anspannung und Euphorie
Die 13 muss im Kino keine Unglückszahl sein. Die Regisseure beispielsweise, die im Lauf ihrer Karriere exakt so viele Filme realisiert haben, bilden eine illustre Riege: Jacques Becker, Antonio Pietrangeli und Stanley Kubrick, Der Japaner Shinji Sômai gehört ebenfalls in diesen exklusiven Kreis.
Er ist zwar weniger bekannt als die Drei, aber die Auszeichnung gebührt ihm durchaus.Ebenso wie Kubrick war er berüchtigt für seinen Perfektionismus. Es kam durchaus vor, dass er Teams und Darstellern zumutete, 100 Takes von einer Einstellung zu drehen. Mit Becker hatte er die Gewissenhaftigkeit gemeinsam, aber nicht dessen heroisches Zögern (er konnte schnell sein, lieferte 1985 mit „Typhoon Club“ umgehend eine Replik auf »The Breakfast Club« von John Hughes, der im gleichen Jahr herauskam). Ebenso wie das von Pietrangeli wird sein Werk vor allem von einer Erzählperspektive entscheidend geprägt; beim Italiener waren es die Frauenfiguren, Sômai fühlte sich in die Welt der Jugendlichen hinein. Wie im Falle von Becker und Pietrangeli ist sein überschaubares, konzentriertes Oeuvre einem frühen Tod geschuldet: Er starb 2001 mit 53 Jahren an Krebs.
Es könnte sein, dass Sie seinen Namen noch nie gehört haben. Das ist keine Schande, denn lange Zeit galt er als der größte japanische Regisseur, der außerhalb des Landes praktisch unbekannt war. Bedauerlich ist es dennoch. Aber dem kann nun Abhilfe geschaffen werden. Ab Montag (8.9.) zeigt das Japanische Kulturinstitut in Köln (https://co.jpf.go.jp/veranstaltungen/kalender/regisseur-somai-shinji-1948-2001/), das Filmmuseum München schließt sich zwei Tage später mit einer Auswahl von sechs Titeln an. Für den Dezember plant das Metropolis in Hamburg eine Retro; Termin und Ort einer Filmreihe in Berlin stehen momentan noch nicht exakt fest. Frühere Anläufe, diesen großen Verschollenen zu rehabilitieren, gab es gleichwohl. Olaf Möller bemühte sich noch zu dessen Lebzeiten darum (im Netz fand ich einen Text von 1999, den er anlässlich einer Miini-Retro im Metropolis für die "taz" schrieb), die Cinémathèque francaise widmete ihm 2012 eine Werkschau, bei der ich einige seiner Filme entdeckte. In den letzten Jahren bringt ein dortiger Verleih mit dem trefflichen Namen "Survivance" sukzessive seine Hauptwerke heraus.
Sômai blieb international wohl auch deshalb ein Geheimtipp, weil seine Arbeit in eine Übergangsphase fällt. Die 1980er Jahre standen im Zeichen der Auflösung des klassischen Studiosystems, nun kamen unabhängige Produktionen auf. Sômai fing Anfang ein Jahrzehnt vorher als Assistent bei Nikkatsu an und lernte das Handwerk von der Pike an. Er arbeitete in populären Genres, dem Softporno und der Yakuza-Komödie, feierte mit seiner zweiten Regiearbeit »Sailor Suit and Machine Gun« (ich halte mich fortan an die englischsprachigen Titel, die jeweils in den Programmen benutzt werden) einen immensen Kassenerfolg. Aber seine Lehrer und seine Schüler erlangten irgendwie stets größeren Ruhm. Für Kyoshi Kurosawa, der seinerseits bei ihm assistierte, war er ein Siegelbewahrer eines im traditionellen System erworbenen Savoir-Faire. Zugleich bewunderte er den radikalen Eigensinn seines Meisters: "Auf dem Set herrschten Anspannung und Euphorie", berichtete er, "bei jeder Einstellung hatte man das Gefühl, dass sie eine ungeheure Leistung darstellte, dass ihm ein Kunststück gelang."
Das Japanische Kulturinstitut feiert ihn zu Recht als einen Meister der Plansequenz. Auch in dieser Disziplin gehört er zu einem exklusiven Kreis, setzt sie aber ganz anders ein als Ophüls, Mizoguchi und Preminger. Seine langen Einstellungen sind Bravourstücke, die sich als solche nicht zu erkennen geben. Ihre Virtuosität kommt leise daher, sie umfängt die Figuren mit einem Ambiente, das der körperlichen Präsenz der Darsteller eine eigene Dynamik verleiht und das Publikum in einen sanften Schwindel versetzt. Mitunter ist es aberwitzig, wie viel er in eine einzige Einstellung packt, aber stets spricht daraus eine Hingabe zu dem, was er erzählt und die Bereitschaft, den Figuren dort einen souveränen Platz einzuräumen. Der Rohschnitt seiner Filme war nicht selten vier, fünf Stunden lang, den er dann behutsam auf die Hälfte kondensierte. Olaf Möller stellt zwar fest, dass Sômai in den 90er Jahren von diesem Stilmittel stetig Abstand nahm. Aber in seinem letzten Film »Kazahana« (2001) zieht er eine stolze Summe seiner visuellen Experimente. Die Kranfahrt, die den Film eröffnet, dauert geschlagene fünf Minuten. Sie erkundet agil das Geäst eines mächtigen Baums, an dessen Fuß ein Mann und eine Frau im Morgennebel verkatert aufwachen. Sie wissen nicht recht, wie sie hierhin gekommen sind, der Mann hat vergessen, wie sie sich begegnet sind, die Frau hingegen erinnert sich amüsiert. Bald erfahren wir, dass sie auf jeweils aus der Bahn geschleudert wurden (nicht ohne eigenes Zutun), sich treiben lassen, abseits vom Leben stehen. Die Plansequenz erfasst sie in einem existenziellen Dazwischen, dem Geworfensein in jenen Moment, wo Vergangenheit und Zukunft aufeinandertreffen.
Sômais große Jugendfilme wiederum versenken sich tief in das Alter, in dem noch alles möglich scheint. »Dreamy Fifteen«, der Titel seines Erstlings von 1980, ist hier trefflich gewählt. Ein Jahr später demonstriert »Sailor Suit and Machine Gun«, dass zu den Möglichkeiten auch das Unvorstellbare gehört. Die 17jährige Tochter eines Yakuzubosses muss dessen Platz übernehmen. Kurzerhand verlässt sie die Schule, um das Erbe anzutreten. Die Uniform, auf die sich der erste Teil des Filmtitels bezieht, legt sie im Verlauf der turbulenten Handlung dennoch nicht ab, erst recht nicht, als sie am Schluss beherzt zu besagter Waffe greift. Ein riskantes, blutiges Kinderspiel entspinnt sich, das Sômai als Komödie der Unvereinbarkeiten inszeniert. Eigentlich ist hier niemand der eigenen Rolle und seinen Aufgaben gewachsen, der zunächst verwaiste Yakuza-Clan ist ein kleines, buntes Häuflein, das sich in einem altersschwachen Kleinwagen bewegt. Die mächtigen Rivalewn lassen sich freilich auch leicht übertölpeln. Die Absurdität ist hier nicht nur Prämisse, sondern auch Ergebnis eines Prozesses, den der Regisseur wachsam verfolgt. Der Film war ein Höhepunkt des Teenager- und Musikidol-Kinos der 1980er, aber zuweilen wird einem schon mulmig, wenn man in eine Kultur eintaucht, die mädchenhafter Kindlichkeit eine schlüpfrige Rolle zuweist. Die Katharsis, die sich am Ende einstellt, verspricht keine unbefleckte Normalität, verbreitet aber eine robuste Zuversicht.
Wie Sômais jugendliche Protagonisten sich erproben, wie ihre Hormone verrückt spielen, steht auch in »Typhoon Club« eine unzuverlässige Erwachsenenwelt gegenüber, namentlich das Lehrerkollegium. Das titelstiftende Unwetter veranlasst einige Schülerinnen und Schüler dazu, in ihrer Klasse zu bleiben. Die Ausnahmesituation wird zum Anlass vielfacher Erkundungen. Diese Hommage an die Hartnäckigkeit von Teenagern zeigt auch, wie empfindsam der Regisseur für die Witterung ist. Der Wind, der durch ihre Schuluniformen weht, ist eine zarte Sensation. Das Wasser ist allgegenwärtig im Film, angefangen mit dem heimlichen nächtlichen Bad im Schwimmbecken. Sômai ist einer der großen Meteorologen des Weltkinos: Was bei Ozu die Sonne ist, ist bei ihm der Regen.
»The Friends« von 1994 kenne ich nicht, dort verwandelt sich die morbide Faszination dreier Jungen für einen todgeweihten Außenseiter anscheinend in helllichte Fürsorge. An „Moving“ von 1993 habe ich aus Paris eine vage, aber doch punktuell konkrete Erinnerung. Die kleine Ren muss die Scheidung der Eltern durchstehen. Der Spalt, der durch ihre Ehe ging ist so tief, dass sie einander bei Tisch nicht einmal mehr die Sojaflasche weiterreichen können. Ich habe vor allem vor Augen, wie Ren dem Vater und dem Umzugswagen hinterherläuft. Sie erreicht ihn nicht mehr. Aber sie rennt, das ist das Glück von Sômais Heranwachsenden, dem Leben entgegen.
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