Ein konservativer Utopist

Der Stuhl, den ihm sein Team an jedem Drehtag bereitstellte, blieb meist leer. Es widersprach seinem Temperament, im Sitzen Regie zu führen. Zum Nachdenken brauchte Keisuke Kinoshita Bewegungsfreiheit, er gestikulierte einfach viel zu gern.

Dass Filmemachen Dringlichkeit bedeutet, hatte er von seinem Lehrmeister Yasujiro Shimazu gelernt. Der sah es nicht gern, wenn seine Assistenten sich nur im Schritttempo bewegten. Er erwartete, dass sie rannten, um Material und Ausrüstung herbeizuschaffen. Dieses Tempo hat Kinoshita, dem das Japanische Kulturinstitut in Köln (ab dem kommenden Montag) und das Nippon Festival im DFF in Frankfurt (ab Dienstag) Retrospektiven ausrichten, Zeit seiner Karriere gehalten. In viereinhalb Jahrzehnten drehte er 50 Filme. Das war auch eine Aufholjagd, denn er musste zehn Jahre warten, bis er 1943 endlich vom Assistenten zum Regisseur befördert wurde. Seine Filme freilich verraten keine erzählerische Hast, nicht einmal eine gezähmte Unrast. Ihr Gestus ist vielmehr die leidenschaftliche, behände Umsicht. Mit lyrischer Geduld nähern sie sich ihren Schauplätzen und erspüren den Lebensrhythmus, der dort herrscht. Das ist schon in dem frühen Kammerspiel „Jubilation Street“ (1944) so, wo er eine Nachbarschaft erkundet, in dem er behutsam die Stafette von einem Akteur zum nächsten weiterreicht. Insgeheim kündigen sich in dieser Beschaulichkeit schon die Konflikte an, die bald die Handlung bestimmen werden. Die Berglandschaft in „A Legend or was it?“ (1963) erweist sich als trügerisch pastorales Idyll, in dem vor Jahren Engherzigkeit und Ausgrenzung zu einer blutigen Tragödie führten. 

Fast alle seiner Filme hat er für das Studio Shochiku gedreht. Seine Melodramen entsprachen einerseits den erzählerischen Maximen, die dort galten. Sie werfen einen warmherzigen, optimistischen Blick auf den Alltag. Aber zugleich unterlaufen diese. Ebenso wie die beiden Baumarten, die das Studio im Namen führt – Sho: Pinie; Chiku: Bambus -, trotzt die Lehrerin in „24 Eyes“ den Stürmen der Zeit; sie ist gleichsam eine japanische Verwandte der Figuren John Fords, die ihre Erfüllung in der Hingabe an eine Institution finden. Lehrerfilme handeln unausweichlich vom Abschiednehmen. Sie schildern eine Gemeinschaft, die sich notwendig auflöst; Fürsorge, Verbundenheit oder Zwietracht bleiben in ihr befristet. Fräulein Oishi jedoch, die auf der Insel Shodoshima ihre erste Stelle antritt, nimmt am Schicksal ihrer Erstklässler fast zwei Jahrzehnte lang teil. Sie geleitet sie durch die Wechselfälle des Erwachsenwerdens und betrauert ihre Verluste während des Zweiten Weltkrieges.

Gleich zu Beginn jedoch löst Fräulein Oshi einen Skandal aus, als sie nicht im Kimono, sondern in einem modernen Kostüm gekleidet die Insel mit dem Fahrrad erkundet. Später wird die Nonkonformistin als Kriegsgegnerin verfemt. „Twenty-Four Eyes“ ist eines der glühendsten Plädoyers für den Pazifismus, das das japanische Kino hervorbrachte. Kinoshita führt dem Publikum die Blessuren vor Augen, die der Krieg hinterließ. Sein Film begehrt auf gegen die enorme Verdrängungsleistung seiner Landsleute. Das Erdulden von Mühsal und Verlust begreift er zwar als heroische Tugend. Aber die Gesellschaft hat für ihn keineswegs immer das Recht, sie zu fordern.

So gewinnt der sentimentale, unverfängliche Humanismus, der bei der Shochiku  gepflegt wurde, gewinnt bei diesem Regisseur eine ungekannte Verbindlichkeit. Unbeirrt führt der Regisseur, der stets auch sein eigener Drehbuchautor war, dem Publikum die körperlichen und seelischen Blessuren vor Augen, die der Weltkrieg hinterließ. Seine Filme begehren auf gegen die enorme Verdrängungsleistung seiner Landsleute. Schon während des Krieges unterlief er sacht die Gebote der Propaganda und geriet bisweilen in Konflikt mit der Militärzensur. Das Erdulden von Mühsal und Verlust begreift er zwar als heroische Tugend. Aber die Gesellschaft hat für ihn keineswegs immer das Recht, sie einzufordern. „24 eyes“ ist eines der glühendsten Plädoyers für den Pazifismus, das das japanische Kino hervorgebracht hat. Sein Erfolg wurde 1954 nicht nur an dem Einspielergebnis, sondern auch an der Menge der feuchten Taschentücher gemessen.

Kinoshita bevorzugte die weibliche Perspektive. Eines der Leitmotive seiner geschmeidigen Inszenierungskunst ist das respektvolle Zurückweichen der Kamera, die seine Figuren in ihren räumlichen und sozialen Kontext stellt. Er verehrte Frauen, die sich mit Leib und Seele einer Leidenschaft verschreiben. Der Leitstern dieses konservativen Utopisten der Liebe war die opferreiche, glückliche Ehe seiner Eltern. Allerdings sind seine Familienmelodramen und Satiren ästhetisch wie ideologisch bewundernswert ergebnisoffen. Wenn er die traditionellen Werte in Widerspruch zu den neuen Sitten setzt, teilt er gern nach beiden Seiten aus. Den Einfluss der amerikanischen Lebensart auf das restaurative Nachkriegsjapan verspottet er ebenso wie die Rückständigkeit der Landbevölkerung. In „Carmen comes home“ (1951), dem ersten japanischen Farbfilm, entscheidet er den Konflikt mit wehmütiger Großzügigkeit. Eine berühmte Tänzerin kehrt für ein paar Tage in ihr Heimatdorf zurück. Die Einwohner sind empört, als sich herausstellt, dass sie in Wirklichkeit in einer Striptease-Bar arbeitet. Als dann jedoch die Lüsternheit Oberhand gewinnt, probt Carmen mit ihrer Freundin für einen Auftritt - Tanz und Berglandschaft sollten jenseits von Bollywood nie mehr eine so verwegene Verbindung eingehen. Die hübsche Doppel-Pointe liegt darin, dass Carmen ihren Beruf mit dem Ernst einer Balletttänzerin ausübt und selbst ihr schockierter Vater einsehen muss, dass das, was in Tokio Kunst ist, es auch in den Bergen sein kann.

Er ging nicht mit den Moden, war aber empfänglich für das, was in der Luft lag. 1960, als die Shochiku und die Branche überhaupt sich in radikalem Umbruch befindet, dreht er seinen erstaunlichsten Film, „The River Fuefuki“. Der Altmeister wird zum behutsamen Zeitgenossen der Neuen Welle, die sich Bahn bricht. Die verzweifelte Familienchronik aus den Bürgerkriegen des 16. Jahrhunderts, schwarzweiß gedreht und mit expressiven Farben übermalt, ist Ausklang und Aufbruch zugleich. Das japanische Kino sollte nie mehr so sein wie zuvor.

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