Drei Regietemperamente

Seit der Bären-Verleihung am vergangenen Samstag ist der Begriff "Kino der Achtsamkeit" in vieler Munde. Er hat nicht nur einen guten Klang; die Entscheidung der Jury, Nicolas Philiberts »Sur l' Adamant« mit dem Hauptpreis auszuzeichnen, ist auch auf Unverständnis und gar Missbilligung gestoßen.

In der englischen Formel vom "Cinema of care" macht diese Konzeption nicht weniger Furore. Für den französischen Dokumentarfilmer ist die Pflege natürlich kein Modethema, sondern eines, mit dem er sich bereits häufig auseinandersetzte. Einige der schönsten Filme über Sorgearbeit hat Ann Hui gedreht. Die Regisseurin aus Hongkong kommt regelmäßig auf ihre soziale wie familiäre Notwendigkeit zurück, etwa in »Summer Snow« von 1995 oder »Tao Jie – Ein einfaches Leben« von 2011. Es passt gut, dass die Filmreihe, die ihr das Österreichische Filmmuseum ab Donnerstag ausrichtet, mit "Ordinary Heroes" überschrieben ist.

In den folgenden zwei Monaten kann man in Wien eine Regisseurin (wieder-) entdecken, die sich auf die leisen Töne versteht, aber auch patente Actionfilme gedreht hat. Vor einigen Tagen sah ich mir noch einmal »Boat People« an, mit dem sie 1982 international bekannt wurde. Er hat nichts von seiner Wirkung verloren, kam mir so anmutig und verstörend vor wie beim ersten Sehen. Er gilt als der erste Spielfilm über vietnamesische Bootsflüchtlinge, spielt aber – abgesehen von seiner erschütternden Schlusssequenz – eigentlich auf dem Festland. Seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte steckt voller Widersprüche, die heute indes eine völlig andere Brisanz hätten.

Es war die erste Hongkong-Produktion, die auf dem chinesischen Festland gedreht wurde. Das bedeutete, dass dem Film der traditionell entscheidende Exportmarkt Taiwan verwehrt blieb. Das Bild, das Ann Hui von einem repressiven kommunistischen Regime zeichnet, wäre dem heutigen Regime in Peking nicht recht. Aber das damalige stand Vietnam feindselig gegenüber. Ihr Film wurde weltweit und daheim kontrovers aufgenommen. Ein heißes Eisen: Im Wettbewerb von Cannes konnte er nur als Überraschungsfilm gezeigt werden und die Pressekonferenz wurde so terminiert, dass kein Journalist von ihr wusste.

Beim Wiedersehen beschäftigte mich vor allem Ann Huis Erzählperspektive. Es ist die eines Außenseiters: eines japanischen Fotografen, der eingangs die Parade der vietnamesischen Truppen im befreiten Da Nang dokumentiert. Die Kranfahrt, die ihn in dem Trubel verliert und wiederfindet, während sie zwischendrin die jubelnden Einwohner auf ihren Balkonen und hinter ihren Fenstern zeigt, ist ein technisches Kabinettstück und zugleich hellsichtig. Drei Jahre später kehrt der Fotograf zurück und stößt auf behördlichen und diplomatischen Widerstand, weil er das Land gern ohne seine okroyierte Führerin erkunden würde. Schon im Prolog führte ihn sein Blick hinter die Kulissen, er folgt einem kriegsversehrten Jungen auf Krücken, der in einer Seitengasse verschwindet. Drei Jahre später entdeckt er, dass die staatlichen Parolen und patriotischen Lobgesänge der Schulklassen eine Fassade bilden sollen, hinter der sich entsetzliches Leid verbirgt. Es fällt nicht schwer, in ihm ein Alter Ego der Filmemacherin zu sehen, die dem ersten Blick misstraut. Hinter dem Anschein offenbart sich eine ganz andere Wirklichkeit.

Die zweite Retrospektive, auf die ich Sie heute hinweisen möchte, ist Julien Duvivier gewidmet. Das Berliner Arsenal zeigt im März die erste Werkschau dieses Regisseurs überhaupt in Deutschland. Sie trägt den stimmigen Titel "Mise en Scène" . Was für eine Großtat dies in meinen Augen ist, werden Sie als regelmäßige Leserinnen und Leser dieses Blogs bestimmt ermessen können. Morgen Abend werden die Kuratoren Ralph Eue und Frederick Lang zur Eröffnung in »Die zünftige Bande« (La belle équipe) einühren. Weitere Filme dieses Ausnahmregisseurs werden u. a. Heike Klapdor, Peter Nau sowie Michael Omasta vorstellen; ich selbst soll über seine beiden Verfilmungen von »Poil de carotte« (Rotschopf bzw. Rotfuchs) sprechen. Auf die dazu bei Synema erscheinende Broschüre bin ich sehr gespannt (full disclosure: an ihr bin ich als Autor ebenfalls beteiligt).

Einen anderen französischen Filmemacher, der hier zu Lande mindestens ebenso schwer durchzusetzen ist, stellt das Filmkollektiv Frankfurt im März im Kino des DFF vor: Eugène Green. Seine Arbeiten sind bei uns allenfalls auf Festivals gezeigt worden. Singuläre Figuren wie ihn nennt man gern Freischärler: ich kenne jedenfalls keine Schublade, in die dieser Exzentriker passt. Geboren wurde er 1947 in NewYork, kehrte seiner Heimat aber blutjung den Rücken zu. In Interviews kommen ihm nie die Worte USA oder Amerika über die Lippen, er spricht lieber von der "Barbarei", der er entkommen ist. Seine Lehrjahre hat er überall und nirgends verbracht, war kurz in Deutschland und dann in Großbritannien (um Englisch zu lernen, wie er listig behauptet), bevor er in Frankreich als Tausendsassa heimisch wurde. Dort gründete er ein Theatercompagnie, die Corneille und Racine auf die Bühne brachte. Mit dem Barocktheater hat er sich auch als Theoretiker beschäftigt. Diese Epoche hat es ihm ohnehin angetan, ihre Musik schwappt souverän in seine späteren Filme über. In seiner dritten Kinoarbeit »Le Pont des Arts«, die 2004 starken Eindruck auf mich machte, verliebt sich ein Mann in die Stimme einer Sängerin, die ein Barock-Album aufgenommen hat. Seither habe ich Green aus den Augen verloren (siehe oben), aber nie ganz aus dem Sinn. Nicht nur dreht er relativ kontinuierlich fürs Kino, sondern veröffentlicht auch Gedichte, Novellen und Romane. Wie Robert Bresson ist er ebenfalls ein Theoretiker seines Mediums, in dem Essay "Présences" setzt er sich mit dem Wesen des Films auseinander.

Wiederum ein großartiger Retro-Titel: »Das lebendige Wort«. Der morgige Eröffnungsfilm »La Religiosa Portuguesa« (The Portugese Nun) löst ihn bereits triftig ein: Es ist die Verfilmung eines Briefromans aus dem 17. Jahrhundert. Green ist ein Regisseur des Wortlauts, wenngleich auf andere Weise als Rivette. Bresson liegt ihm eben nähe. Aber der Sprechakt hat bei Green seine eigene melodiöse Prägnanz. Er betreibt filmische Sprachforschungen, beispielsweise über baskische Dialekte. Green wird Mitte des Monats zu Filmgesprächen nach Frankfurt kommen; Gary Vanisian und seine Mitstreiter vom Filmkollektiv haben zudem eine Lesung aus seinem Roman "La Reconstruction" und Gedichten auf die Beine gestellt.

Ein Phänomen wie Joseph Conrad oder Vladimir Nabokov: einer, dem es gelingt, eine fremde Sprache zu seiner Muttersprache zu machen. Dass aus dem entkommenen Barbaren längst ein waschechter französischer Filmemacher geworden ist, bestätigte im letzten Herbst »Le Mur des Morts« (Die Mauer der Toten), der auf der Viennale lief. Eine lichte, sommerliche Geisterbeschwötrung, die Erweckung eines Gefallenen des Ersten Weltkriegs, der in der Gegenwart ein Wort mitreden will. Für mich war der Film eine wundersame Wiederbegegnung mit ihm. Ich sollte mich wieder mehr mit Eugène Green beschäftigen; vielleicht an dieser Stelle.

 

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