Ein gutes Dutzend Einladungen

In Cannes präsentieren sich derzeit stolz Kunst und Branche. Das Kino braucht diese festliche, glanzvolle Aufmerksamkeit vielleicht gerade mehr denn je. Aber wäre es möglich, dass Filmfestivals gar nicht dessen ureigene Idee sind? Stammt der auslösende Impuls nicht viel eher von den Tourismusbüros der Austragungsorte, oder gar von den dort ansässigen Hoteliers, die unbedingt die Saison verlängern wollen, im Falle von Cannes nach vor hin?

In Frieda Grafes Essay über Grandhotels in der Unterhaltungsindustrie finden sich unstrittige Belege für diese These. Der schlagendste: Fast alle großen Festivals wurden in Badeorten aus der Taufe gehoben, in Venedig, Cannes, Locarno und Karlsbad. Natürlich werden die Festivalprogramme nicht nur zum Schein gezeigt, um eigentlich Zimmer zu belegen. Aber an der Mehrdeutigkeit dieser Unternehmungen habe ich keinen Zweifel mehr, seit ich Grafes Text nun wieder las. „Synema“ in Wien hat ihm eine Broschüre gewidmet, die pünktlich zu einer kleinen Retrospektive mit Hotelfilmen im Filmmuseum erschienen ist. Zuvor lief die Reihe im Frauenfilmfestival „Remake“ in Frankfurt. Rund ein Dutzend AutorInnen umkreisen in der Publikation den Essay und seine Verfasserin, was ein ziemlich einzigartiges ideengeschichtliches Vorhaben darstellt. „Ungenierte Unterhaltung. Mit Frieda Grafe im Grandhotel“ ist wie ein Countdown aufgebaut, der auf den Essay hinausläuft. Mit gleich drei Herausgeberinnen für ein schmales Bändchen von 85 Seiten und zu einem stattlichen Preis (16 €) wirkt das editorische Unterfangen auf den ersten Blick reichlich aufgebläht. Ich ging mit einer gewissen Skepsis an die Lektüre heran. Ist der Essay wirklich eine solch filmpublizistische Großtat, dass er diese Exegese verdient? Und birgt das Herabzählen dahin nicht das Risiko der Verherrlichung? Ein richtiger Countdown aber setzt die eigenen Regeln außer Kraft: Er ist spannend, auch wenn man den Ausgang kennt.

Der Anfang ist in meinem Fall durchaus ungewiss. Ich eignete mich an ihm nicht sonderlich zum Grafe- Fan. Der erste, den ich von ihr schwärmen hörte, war ein Dozent, der mir nicht das Gefühl gab, ich könne viel bei ihm lernen: Ihn interessierte wenig, ob die Filme auch tatsächlich die hochfliegenden Ideen bestätigten, die er sich von ihnen machte. Natürlich darf man die Lehrerin nicht für die Fehler ihrer Schüler verantwortlich machen. Sie selbst erlebte ich zum ersten Mal, als sie im Literaturhaus in Berlin einen Vortrag über Jean Renoirs und Fritz Langs Verfilmungen von Zolas „Bestie Mensch“ hielt. Ich glaube, sie argumentierte mit Truffaut, dass Langs Kino ein eschlossenes, das von Renoir hingegen ein offenes, luftiges sei. Bei ihm denke man augenblicklich an eine Baguette, begeisterte sie sich. Das war mir zu folkloristisch. Ich hielt mich für anspruchsvoll damals. Der Rest des Publikums war begeistert. Der Abend war die erste Gelegenheit, bei der ich miterlebte, wie sich danach eine Menge um eine Filmkritikerin scharte. Die Feststellung, die Verena Lueken in ihrer Annäherung an Grafe trifft, ihre Nachahmer seien allesamt männlich, stimmt natürlich. Mein damaliger Eindruck war, ihre Bewunderer seien allesamt weiblich.

Ich wahrte danach meinen inneren Abstand zu ihr. Was mir dadurch an Erkenntnissen entging, holte ich erst später nach, zögerlich und sporadisch. Aber in den 1980ern war mir die bedingungslose Verehrung, die ihr aus meiner Sicht zuteil wurde, nicht geheuer. Dass dies zum Gutteil eine Verkennung war, führt die Broschüre vor Augen. Mein Argwohn ging nie so weit wie der eines ansonsten galanten Kollegen, der sich von einem regelrechten Kult umzingelt sah und sie heimlich beschimpfte als „den Schoß, aus dem das ganze Unheil gekrochen ist“. Grafe verkörperte federführend ein Paradigma in der Filmkritik, das immens einflussreich war. Den Ton gaben jedoch, das hat bei uns nach wie vor Tradition, jene Stimmen an, die den Filmen vorschreiben, wie sie zu sein hätten. Wie notwendig Grafes Position war, wird in der Broschüre auch insofern deutlich, als sie darin durchaus in Stellung gebracht wird gegen die Kritische Theorie, welche die hiesige Filmpublizistik für lange Zeit zu einer reichlich sauertöpfischen Angelegenheit werden ließ – die und vor allem den Blick aufs klassische Hollywoodkino sträflich verengte. Grafe wirkte hier als eine gleichsam ausländische, zumindest in Paris ausgebildete Agentin der Cinéphilie. Diese Filmkritikerin war eine Fürsprecherin, eine Verteidigerin. Sie etablierte ein kluges, vernünftiges Lustprinzip: Nicht zuletzt dank ihr war es keine Schande mehr, Filme von Hawks, Jerry Lewis, Frcd Astaire, Mitchell Leisen, Wilder und anderen zu schätzen; zumal bei Lubitsch war für sie das Unseriöse des Kinos in besten Händen. Fürwahr, warum sollte man eine Industrie schelten, die Filme macht „mit der Berechnung, Vergnügen zu bereiten“?

Tatsächlich geht ein kulinarischer Zug durch das Büchlein. Ihre Texte schrieb Grafe offenbar vorzugsweise in der Küche - vielleicht, nachdem sie beim Zwiebelschneiden den Kopf frei bekommen hatte, oder während derweil ein Boeuf Bourguignon im Ofen schmorte. Allerdings stelle ich mir das weniger als ein Refugium des Hedonismus' vor; von Genuss ist kaum die Rede, stattdessen vom Austausch von Rezepten oder Utensilien. Mithin ein Arbeitsraum, dessen eigentlicher Zweck als Denkhilfe dient. Hier bringt man die Dinge auf den Tisch. Neben den einschlägigen Assoziationen - Vorbereitung, Sorgfalt, Geduld – legt der Ort für mich noch eine zusätzliche nahe: das Schreiben als Nahrung für Anschauung und Phantasie. Erstaunlich, dass die Hotelküche praktisch keine Rolle in ihrem Essay spielt, der tendenziell aber ohnehin eher die Perspektive der Gäste als die der Angestellten einnimmt.

Ich begegnete dem Text zum ersten Mal in der Jahreszeitschrift „Cinema“, die in Zürich erscheint und deren Herausgeber das Luxushotel vorsichtshalber als eine schweizerische Erfindung eingemeindeten. Das war, wie ich nun erfahre, eine gekürzte Fassung. Später las ich sie erneut, als ich eine Radiosendung über das Hotel im Kino vorbereitete. Mein Blick darauf war anders, mich interessierte es vorrangig als ein Mikrokosmos, als Welt unter einem Dach. Auch für Grafe ist es selbstverständlich ein Ort, an dem die Gesellschaft ihre Gesichter und Masken zeigt. Aber vor allem beeindruckte mich während der Lektüre, wie viel Kultur- und Architekturgeschichte des Grandhotels sie hier erzählt. Ihre Entgrenzung von Fiktion und Wirklichkeit ist ertragreich: Das Kino hilft, sich einen Begriff von der Welt zu machen. Umgekehrt gilt das ebenso.

Selbstredend deutet sie diese Kulissenwelt mit befristeter Verweildauer auch als Allegorie auf das Medium selbst. Diese Vorstellung ist entdeckungsprall genug, aber Grafe führt sie mit dem jüngsten Film, der sie beschäftigt, noch konsequent weiter zum Obsoleten: In „Détective“ von Godard spielt die konkurrierende Nachfolgetechnik Video eine maßgebliche Rolle. Sie nimmt den Wandel der Moden, Wahrnehmungen und sozialen Zuständigkeiten in den Blick, denen das Luxushotel unterworfen ist. Das korrespondiert mit ihrem zentralen Thema, der Verwandlung der Gäste. (Elisabeth Bronfen hebt hervor, dass diese sich meist über Nacht vollzieht.) Mit ihrem Sujet hat Grafe wirklich einen Glücksgriff getan, es ist der Kinoort par excellence, an dem sich unermesslich viel kristallisiert. Nicht einmal der Zug oder das Warenhaus gäben als Topos so viel her.

Der Essay selbst ist eine Wunderkammer. Das wird in den Interpretationen, welche die Broschüre versammelt, umso deutlicher. Er lässt sich aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachten, ohne sich verbiegen zu müssen. Gewiss, es finden auch lässliche Vereinnahmungen Grafes für aktuelle Diskussionen statt. Aber die Schreiblust, die der Essay bei ihren ExegetInnen entfacht, bleibt dessen Betrachtungspräzision verpflichtet. Auf bestimmte, unverzichtbare Begriffe kommen fast alle Texte zurück: dem Hotel als Transitraum, seine latente Scheinhaftigkeit, das Problem der Identität (wunderbar: deren „kribbelnde Unsicherheit“). Erstaunt hat mich jedoch, wie wenig Wiederholungen es in dem Bändchen gibt (vielleicht brauchte es wirklich drei Herausgeberinnen) und zugleich, wie einhellig die Subversion in Grafes Schreiben postuliert wird. Der Luxus ist in jeder Epoche ein heikler Gegenstand. Aber die Stilanalysen schürfen tiefer. Ihre Sprache ist widerständig, sie bildet eine „feinfühlige Opposition“. An anderer Stelle heißt es, mindestens ebenso schön, „sie deckelt nicht die Störgeräusche ihrer eigenen Wahrnehmung“. Für mich waren diese Lesarten inspirierend. Sie haben mich beispielsweise mit einer Vokabel versöhnt, mit der ich ständig hadere: „vielleicht“. Mich geniert das Unentschiedene, das ihr innewohnt, und Dynonyme hefen kein bisschen. Aber gerade das Abwägen, lerne ich, hat sein Recht: es will nicht alles dingfest machen, nicht restlos erledigen.

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